Körperkult in Brasilien: Ich bin schön, ich bin stark
Körperkult in Rio de Janeiro – nicht nur in olympischen Zeiten: Eine Tour durch die Hauptstadt der Schönheitskliniken und Fitness-Studios.
Die Eitelkeit ist eine der sieben Todsünden, doch das ist den Einwohnern Rio de Janeiros egal. Die Cariocas, wie man sie nennt, zeigen bei jeder Gelegenheit, was sie haben: pralle Bizeps, üppige Brüste, einen runden Po. Seinen Körper ungeniert zur Schau zu stellen, ist eine der typischsten Charaktereigenschaft der Menschen der Olympiastadt.
Es beginnt schon früh am Morgen. In Copacabana und Ipanema machen sich die einen im Anzug auf zur Arbeit, während die anderen in Badehosen und Flipflops zum Strand schlendern. Nirgends auf der Welt ist die Halbnacktheit akzeptierter. Was umso erstaunlicher ist, weil auch in Rio die bare Haut vor einigen Jahrzehnten noch als Ausdruck von Armut und fehlender Zivilisation galt. Ende der Vierzigerjahre wurde sogar über ein Bikini-Verbot nachgedacht. In Rio!
Die globale Freizeitgesellschaft beendete die Prüderie. In Rio kamen zwei Faktoren hinzu: Das Klima sorgt für neun Monate Sandalen- und Badewetter. Und die Stadt ist mit dem Strand verschmolzen. Der Strand dominiert das Lebensgefühl selbst dort, wo er gar nicht existiert.
Der Körper wird zur selbst geformten Skulptur
Das ist nicht nur ein Segen. Insbesondere für die Zeitgenossen, die nicht mit prallen Bizeps, üppigen Brüsten und knackigen Pos gesegnet sind. Die Cariocas betrachten die fehlende Perfektion jedoch nicht als Problem, sondern als Herausforderung. Der Körper wird zur Skulptur, an der es immer etwas zu formen, zu feilen und spachteln gibt. Hier etwas aufgefüllt, dort ein wenig abgetragen.
An einem Sonntag, 30 Grad, wolkenloser Himmel, an der Copacabana kommt die Stadt zusammen. Zum Präsentieren, Defilieren, Ausstellen. Große Leibershow. Da sind die Reichen aus der Südzone, die Armen aus den Favelas, die neue Mittelklasse von überall her. Freche Halbwüchsige, Bikinimädchen, tätowierte Schwule, ihre Muskeln streichelnde Bodybuilder, sehnige Senioren, Touristen auf der Suche nach Begleitung, freche Taschendiebe, ihre Ware anpreisende Limonadenverkäufer, Volleyballspieler, Jongleure. Weiße, Schwarze, Braune, Rote und alle dazwischen.
Auf der gesperrten Avenida Atlântica wird gejoggt, Skateboard, Longboard, Inlinskate und Fahrrad gefahren, die Frauen in grellbunten Leggings; die Männer mit nacktem Oberkörper. Nirgends auf der Welt dürfte die Sixpack-Dichte höher sein. An einem der silberglänzenden Fitnessgerüste, die entlang des calçadão, der berühmten Strandpromenade stehen, macht Rafael gerade seinen 25. Klimmzug. Er ist Mitte zwanzig und arbeitet als T-Shirt-Model. Aber heute ist er oben ohne unterwegs. Er erzählt, dass er auch Unterricht in Capoeira gebe, dem Kampf, der mit den afrikanischen Sklaven nach Brasilien kam. Auf seinem Smartphone zeigte er einige Fotos von sich in Action.
Ich zeige meine Muskeln gern her
„Die Muskeln“ sagt er, „brauche ich, um meinen Körper bei den Sprüngen zu beherrschen.“ Außerdem möge er seine Y-förmige Physis: „Ich zeige meinen Körper gerne her, das gehört in Rio einfach dazu. Ich mag es, angeschaut zu werden.“
Die Fixierung auf die Physis ist kein neues Phänomen. Dawid Bartelt, Historiker und Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio, sagt, dass der Körper schon seit der Ankunft der Portugiesen im Zentrum der brasilianischen Identität stehe. Sie waren fasziniert von der Nacktheit der Indianer. Dass Bewegung und Schönheit zu Brasilien gehörten, schreibt Bartelt in seinem Buch „Copacabana – Biographie eines Sehnsuchtsortes“. Dies sei speziell in Rio de Janeiro zu spüren: „Die Körperlichkeit ist in Rio prägend für die individuelle und kollektive Identität.“
Es passt also, dass Capoeira-Kämpfer Rafael mindestens drei Mal in der Woche eine academia besucht – so heißen hier die Fitnessstudios. Er gehört damit zu den sechs Millionen Brasilianern, die ins Fitnessstudio gehen. Laut nationaler Vereinigung der Fitnessakademien (Acad) ist Brasilien heute das Land mit den zweitmeisten Einrichtungen dieser Art auf der Welt: rund 22.000. Nur in den USA gibt es noch mehr.
In Rio de Janeiro gibt es 1100 Fitnessstudios
Die Zunahme der Muskelbuden begann parallel zum Aufstieg Brasiliens zur Wirtschaftsmacht in der vergangenen Dekade. Zu deren Anfang existierten im ganzen Land lediglich 800 Studios, ihre Zahl hat sich also mehr als verzwanzigfacht. Die meisten, 6500, befinden sich in Säo Paulo, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat. Rio de Janeiro kommt mit mehr als 1100 Studios dahinter. Dabei sind die vielen Fitnesseinrichtungen in den Favelas gar nicht mitgerechnet.
Die Studios in Rio tragen Namen wie Imperative: Body Planet, Bodytech, Workout Body. Mehr als die Hälfte der Kunden gehört zur Klasse C, der neuen, konsumorientierten brasilianischen Mittelschicht, die nun, in der Wirtschaftskrise, bemüht ist, ihre Stellung zu halten. Den eigenen Körper zu formen, gehört zur Strategie.
Melissa ist Transvestit, trägt Minirock, zieht eine Show ab, kreischt: „Ich bin ein Supermodel.“ Ihre Beine sind glattrasiert, ihre Fußnägel weiß lackiert. Ebenso wie Nagelstudios boomen auch die Wachsstudios, in denen man sich die Haare von allen erdenklichen Körperstellen entfernen lassen kann. Wo anders also soll das sogenannte Waxing erfunden worden sein?
Der Strand ist der Laufsteg der Elite
Auf dem Weg über den Strand möchten einige Strandgänger fotografiert werden: ein Paar das Ken und Barbie gleicht, eine junge Frau mit über die Flanke tätowiertem Drachen, die Strandschönheit Rosanna, für welche man spontan das „Girl from Ipanema“, den berühmten Bossa Nova, anstimmen möchte: „Schau her, welch' Schönheit, so voller Grazie, wie dieses Mädchen läuft, in süßem Wiegeschritt, dem Meer entgegen; ein Mädchen, golden ihre Haut...“
Alle hier scheinen instinktiv zu wissen, wie man sich natürlich und vorteilhaft vor der Kamera bewegt. „Schon in den Dreißigerjahren“, sagt Dawid Bartelt, „wurde der Strand zum Laufsteg auf der die Elite einen trainierten Körper zum gesellschaftlichen Wert erhob.“
Maria Isabel räkelt sich in einem Liegestuhl und beobachtet eine Gruppe durchtrainierter Jungs beim altinho, dem Hochhalten eines Fußballs am Wasserrand. Maria Isabel ist Jahrgang 1958, wohnt an der Copacabana, hat lederbraune Haut, blondierte lange Haare, trägt eine gigantische Sonnenbrille. Sie hat sich die Brüste vergrößern lassen. „Ich bin stolz auf das schöne Resultat“, sagt Maria Isabel. Es gibt die Theorie, dass die Sehnsucht der Cariocas nach üppigen Rundungen auch mit den steilen Hügeln und geschwungenen Buchten Rios zu tun habe? Schon der Architekt Oscar Niemeyer ließ sich von ihnen inspirieren.
Mit ihren Freundinnen diskutiert sie viel über die neuen Möglichkeiten der plastischen Chirurgie, sagt Maria Isabel. Mit jährlich 1,5 Millionen Eingriffen im Namen der Ästhetik ist Brasilien das Land mit den zweitmeisten Schönheitsoperationen auf der Welt, nur noch übertroffen von den USA. Rio ist das Mekka. Von den 5000 Ärzten, die in der brasilianischen Vereinigung Plastischer Chirurgen zertifiziert sind, praktizieren 1000 hier. Die Schönheitsoperation als Abkürzung, um das Fitnessstudio zu umgehen.
Seit einigen Jahren wird eine Miss Po gewählt
Der neueste Trend: die Po-Vergrößerung. Am Strand fällt die große Zahl wohlgeformter, ausladender Hintern auf. Wegen Bikini, Samba und Karneval spielen die vier Buchstaben in Rio eine große Rolle. Seit einigen Jahren wird sogar eine „Miss Bumbum“ gewählt, eine Miss Po. Der Wettbewerb ist so umkämpft, dass schon mal die Jury bestochen wird. Einen Mister Po gibt es bisher nicht.
Die Wurzeln der plastischen Chirurgie lassen sich in Rio bis ins Jahr 1949 zurückverfolgen. Damals richtete der junge Arzt Ivo Pitanguy eine Klinik zur Behandlung von deformierten Menschen ein. Pitanguy war der berühmteste Schönheitschirurg Brasiliens und Mitglied in der Akademie der Künste. Am gestrigen Sonnabend ist er im Alter von 90 Jahren gestorben.
Einer seiner Schüler ist Paulo Müller. Er operiert Bäuche, Po und Brüste, gilt aber vor allem als Spezialist für Gesichtsoperationen. An einem Montagmorgen im Hospital da Plástica im Stadtteil Botafogo. Müller ist gerade von einem Nasenkongress in Istanbul zurückgekehrt, nun liegt eine Frau auf seinem Operationsstuhl. Er hat ihr entlang der Ohren sowie oberhalb der Schläfen die Haut aufgeschnitten und gestrafft, ihr Gesicht ist gelb geschwollen und mit Hämatomen übersät. Aber die 58-Jährige ist glücklich. Sie selbst ist Ärztin, Gastroenterologin. In wenigen Tagen stehe sie wieder im Operationssaal.
Nach der Heilung feiern die Patienten Partys
Müller berichtet, dass manche seiner Patientinnen nach abgeschlossener Heilung Partys feiern. 20 Prozent seiner Kunden sind übrigens Männer, die sich Tränensäcke und Doppelkinn entfernen lassen. Viele Anwälte seien darunter, die meinten, sie wirkten dann überzeugender. Das Absaugen von Bauch- und Hüftfett gehört ebenfalls zu den Standardprozeduren. „Das lassen vor allem Männer nach der Scheidung machen, sie wollen wieder auf den Markt.“ Das Fett werde dann auf Wunsch in den Po injiziert, um diesen wieder praller erscheinen zu lassen. Die Po-Vergrößerung sei zwar im Kommen, bestätigt Müller, aber er mache das nicht gern. Denn da könne sich einiges verschieben: „Man sitzt ja drauf!“
Müller ist stolz, dass er manchmal Interessentinnen wieder nach Hause schickt. Wenn er merke, dass der Wunsch zur Veränderung nicht von einer Frau selbst, sondern von ihrem Mann stamme, lehne er die OP ab. Häufig tauchten auch Mütter mit ihren 18-jährigen Töchtern auf und meinten, der Nachwuchs brauche Silikonbrüste. Offenbar projizierten die Mütter ihre eigenen Wünsche. Er rät den Töchtern dann, in 20 Jahren erneut vorbeizuschauen.
Eine Brustoperation kostet in Rio durchschnittlich zwischen 3000 und 5000 Euro. Sie ist damit immer noch ein Luxus. Müller, der eine soziale Ader hat, operiert deswegen zwei Patientinnen pro Monat gratis, oft sind es die Haushälterinnen von Freunden.
Es heißt, dass die Schönheit vergänglich sei. Doch auch diese Weisheit ignoriert man in Rio de Janeiro ausdauernd. Hier wird der Kampf gegen Zeit und Schwerkraft an vorderster Front ausgefochten.