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Videoinstallation aus der Somerset-House-Ausstellung "Björk Digital".
© Santiago Felipe

Björk in London: Höret, wie mein Herz blutet

Zukunftsmusik: Björk experimentiert in einer Londoner Ausstellung mit virtueller Realität und gab ein akustisches Konzert in der Royal Albert Hall.

Ein vorsichtiger Schritt nach vorne, eine Drehung nach links, wieder zurück, einmal um die eigene Achse – ein Tänzchen mit Björk. Sie scheint auf jede Bewegung des Besuchers einzugehen. Dazu ertönen ein dröhnender Bass, quietschende Streicher und die unverkennbare Stimme der Grande Dame der innovativen Pop-Musik.

Im Londoner Somerset House lässt die Künstlerin ihre Fans scheinbar hautnah an sich heran. „Björk Digital“ heißt die Ausstellung, die zeigt, wie die Zukunft der Musikvideos aussehen könnte. Björk plant begleitend zu ihrem Ende letzten Jahres erschienenen Album „Vulnicura“ das erste „Virtual Reality Album“ der Musikgeschichte und lädt zur Zwischenbilanz in die dunklen Keller des Museums. Die Besucherinnen und Besucher werden in kleinen Gruppen durch verschiedene Säle geführt, in denen sie mittels Virtual-Reality-Brille in das virtuelle Universum der Künstlerin eintauchen können.

Im Video zu „Stonemilker“ tänzelt Björk über eine 360°-Ansicht der tiefschwarzen Lavafelder ihrer Heimat. Bei „Notget“ wächst sie zur funkensprühenden Riesenmotte heran, während man bei „Mouth Mantra“ quer durch ihren Mund bis hin zur Speiseröhre gewirbelt wird. Das ist sehr intim. Wie auch schon „Vulnicura“, auf dem die Musikerin einen ungewöhnlichen Einblick in ihr Gefühlsleben gab. Als „Zeugnis der Hölle“ beschrieb sie das Album, das die Trennung von ihrem Ex-Mann thematisiert. Es scheint nur konsequent, dass sie ihr persönlichstes Album nun noch näher an ihr Publikum heranbringen will. Doch wie immer bei Björk geht es um weitaus mehr.

Sie testet stets die Grenzen des technisch Möglichen

Als die Isländerin Anfang der neunziger Jahre ihre Solokarriere startete, wurde sie schnell zum Star einer Zeit, die durch die Symbiose zwischen Musik und Fernsehen geprägt war. Björk verstand sich nie als Sängerin, sondern immer als multimediale Künstlerin. Ihre Videos, die sie in Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Michel Gondry oder Chris Cunningham produzierte, waren stets Teil des Gesamtkunstwerkes und testeten die Grenzen des technisch Möglichen aus. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Dass Virtual Reality noch am Anfang seiner Entwicklung steht, war für sie kein Problem, sondern Anreiz sich mit dem Medium zu befassen. „Ich mag es, weil es sich nach Punk und Do-it-yourself anfühlt“, ließ sie auf der Pressekonferenz zu Björk Digital per Leinwand-Avatar verkünden. Für eine Künstlerin, die schon ein Album in Form einer App veröffentlicht hat, ist es fast zum Imperativ geworden, neues Terrain zu betreten, selbst wenn dieses noch kaum betretbar erscheint. Wiederholung und Stillstand sind ihr ein Gräuel.

„Björk Digital“ zeigt derzeit erst vier VR-Videos. Nebenbei flackern die alten Clips quasi als Relikt eines längst vergangenen Zeitalters über die Leinwände. Bis zur Vollständigkeit wird das Kunstprojekt noch auf Reisen gehen. In jeder neuen Metropole soll dann ein neues Video vorgestellt werden. Björk hat keine Eile. Sie ist allen anderen eh um Meilen voraus.

Ausschnitt aus dem "Notget"-Video.
Ausschnitt aus dem "Notget"-Video.
© Rewind VR

Jüngst deutete sie an, dass irgendwann sogar VR-Konzerte denkbar seien. Björk war immer schon Teil einer Kunstfigur. Mit jedem Album erschuf sie einen neuen Charakter, der in bester Bowie-Manier durch das Werk führt. Folgt jetzt die endgültige Auflösung ihrer selbst? Verwandelt sie sich in einen virtuellen Popstar?

Beim Konzert wird sie nur von Streichern begleitet

Dass das ein bisschen dauern kann, stellt Björk am Mittwochabend in der legendären Londoner Royal Albert Hall klar. Obwohl sie nach über 40 Jahren Musikkarriere recht bühnenerprobt ist, muss es doch etwas ganz Besonderes für sie gewesen sein: volles Haus bei ihrem ersten Auftritt auf der königlichen Bühne. Natürlich tut sie nicht, was man erwartet hätte. Anstatt Virtual-Reality-Technik und elektronischer Klänge, setzt sie auf ein rein akustisches Set, bei dem sie ausschließlich von Streichern begleitet wird. Die ersten sechs Lieder stammen allesamt aus „Vulnicura“. Das zehnminütige Leidens- Epos „Black Lake“ klingt ohne den Bass von Produzent Arca noch dramatischer, fast so, als könnte man Björks Herz beim Bluten zuhören – Tropfen für Tropfen. Auch „Family“ testet mit seinen langen Pausen die Nervenstärke des Publikums. Auf Visuals verzichtet Björk völlig. Sie allein soll im Mittelpunkt stehen, die Künstlerin aus Fleisch und Blut.

Später spielt Björk auch ältere Songs

Als sie nach einer kurzen Verschnaufpause wieder auf die Bühne zurückkehrt, kommen auch Fans der alten Platten auf ihre Kosten, wobei sie ihre größten Hits allerdings beiseite lässt. Stattdessen spielt sie ihr Duett mit Radiohead-Frontmann Thom Yorke, „I’ve Seen It All“, aus dem Lars-von-Trier-Film „Dancer in the Dark“. Mit „Joga“ und „Pagan Poetry“ folgen zwei weitere Höhepunkte.

Bevor sie mit „Anchor Song“ die erste Zugabe spielt, lässt Björk sich vom Publikum feiern. Auch ohne VR-Brille wirkt die zierliche Gestalt in diesem Augenblick überlebensgroß. Dann spielt sie den Berghain-tauglichen Song „Pluto“. Die Streicher gehen noch ein letztes Mal in die Vollen, Björk tanzt von einer Seite zur anderen und verschwindet unter tobendem Applaus ins Nichts. Ihre letzten Zeilen hallen noch lange durch den Kopf: „I will be brand new tomorrow, a little bit tired, but brand new.“ Ja, brandneu – das wird Björk sicher immer wieder sein.

„Björk Digital“, bis 23.10., Somerset House, London

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