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Heile deine Wunde. Manchmal mag es Björk plakativ.
©  Rough Trade

Björk und ihr Album "Vulnicura": Im schwarzen See

Nach dem Leak ihres Albums „Vulnicura“ hat Björk nun die Download-Veröffentlichung vorgezogen. Die neun Songs sind ein vertontes Trennungstagebuch.

Ein Leak ist immer ein GAU. Obwohl Albumverkäufe heute nicht mehr das Hauptgeschäft von Popstars sind, tut es ihnen extrem weh, wenn neue Songs lange vor dem geplanten Veröffentlichungstermin im Netz auftauchen. Die Möglichkeit, einen großen Auftritt zu inszenieren, ist dahin, ganze Marketingkampagnen sind obsolet, und natürlich sieht ein solcher Scoop einfach verdammt blöd aus.

Control Freak Madonna flippte deshalb völlig aus, als kürzlich Demo-Versionen ihres neuen Albums „Rebel Heart“ durchs Internet kursierten. In ihrer Wut nannte sie den Vorgang „artistic rape and terrorism“. Um dem etwas entgegenzusetzen, veröffentlichte sie sechs hastig fertiggestellte Lieder aus dem Album als EP.

Deutlich souveräner reagierte gestern Björk darauf, dass ihr Album „Vulnicura“ am Wochenende ebenfalls illegal ins Netz gelangt war. Sie stellte es einfach ein paar Tage später zum Download bei iTunes zur Verfügung, am 27. Februar sind auch die CD- und die Vinylversion erhältlich. Die 49-jährige Musikerin verlor kein Wort darüber, dass sie durch den Leak zu dieser überstürzten Planänderung gezwungen wurde. Dabei hätte sie allen Grund, richtig sauer zu sein: Eigentlich sollte „Vulnicura“ Anfang März erscheinen, wenn im New Yorker Museum of Modern Arts eine große Björk-Ausstellung eröffnet und sie in der Carnegie Hall auftritt.

Björk verarbeitet auf "Vulnicura" ihr Trennung von Künstler Matthew Barney

Dieses offensive Ignorieren des digitalen Diebstahls wirkt allemal würdevoller als Madonnas wilde Verbalattacken. Auf ihrer Facebookseite bedankt sich Björk nur bei ihren Fans und Mitstreitern und gibt einige Hintergrundinformationen zur Entstehung des Werkes. Ganz offen schreibt sie, dass es sich um ein „complete heartbreak album“ handele, das eine emotionale Chronologie der Ereignisse nachzeichne. Drei Songs spielen vor der Trennung, drei danach. Zu den übrigen drei sagt sie nichts. Doch beim Hören versteht man, dass die Sängerin auch dort weiter um das Thema des gebrochenen Herzens kreist.

Der Titel „Vulnicura“ ist ein Kunstwort, das sich aus den lateinischen Begriffen „vulnus“ (Wunde) und „curare“ (heilen) zusammensetzt. Wie groß diese zu heilende Wunde aussieht, zeigt Björk auf dem Album-Cover, das sie mit einem Spalt im Oberkörper zeigt, der zudem ein wenig an eine Vagina erinnert – vielleicht steckt auch noch das Wort „vulva“ in „Vulnicura“.

Zugefügt hat ihr diese Wunde der Künstler Matthew Barney, mit dem sie lange liiert war und mit dem sie bei dem Kunstfilmprojekt „Drawing Restraint 9“ auch zusammengearbeitet hat. Seinen Namen nennt Björk zwar nicht, doch sind die Texte ihres neunten Albums größtenteils sehr direkt und eindeutig. So geht es im Eröffnungsstück „Stonemilker“ um Respekt und emotionale Bedürfnisse in einer Partnerschaft. Zu einem traurig-schönen Streicherarrangement, das mit verhallten Beats unterlegt ist, singt Björk: „I wish to synchronise our feelings“. Ebenfalls noch in der Prä-Trennungsphase angesiedelt und mit Hoffnung aufgeladen ist der folgende „Lionsong“, in dem die Sängerin sich wünscht, dass ihr Partner am End die Liebe zu ihr wiederfinden möge. Gleichzeitig ringt sie mit ihrem Gefühlschaos, das durch zerhäckselte Stolperbeats repräsentiert wird.

Dass es aus ist, wird spätestens im zehnminütigen „Black Lake“ deutlich. Hier beschreibt Björk ihre zerrissene Seele und ihren gebrochenen Geist. Das Gegenüber wird erstmals nicht mehr sehnend, sondern anklagend adressiert: „Family was always our sacred mutual mission, which you abandoned“, heißt es, bevor die Streicher – wie mehrmals in diesem beeindruckenden Epos – in eine lange leise Ein-Ton-Passage geführt werden. Als gelte es Kraft zu sammeln für das folgende Leid.

Plötzlich erklingt die Engelsstimme von Antony Hegarty

Tatsächlich ist das folgende Stück „Family“ denn auch das düsterste der Platte und hat mit acht Minuten ebenfalls Überlänge. Vor einem unheilvollen Streicher- Dräuen donnern einzelne von einem fiesen Ratschen gefolgte Elektrobeats herum. Verzweifelt wird das magische Dreieck aus Mutter- Vater-Kind besungen, das nun zerschlagen ist. Nur von einem umherzuckenden Cello begleitet, fragt die in ihrem Kummer umherirrende Sängerin: „How will I sing us out of this sorrow?“ Die Antwort gibt sie im zweiten Teil der Platte, auf dem die Lebensgeister zu ihr zurückkehren, das Tempo anzieht und die Drummachines und Synthesizer das Kommando übernehmen.

Hier ist der Einfluss ihrer beiden Co-Produzenten Arca und The Haxan Cloak deutlicher zu hören als in der ersten Hälfe des Albums. Vor allem der aus Venezuela stammende Arca, der letztes Jahr mit „Xen“ ein viel beachtetes, hoch abstraktes Debütalbum herausgebracht hat, scheint sich auf Stücken wie „Mouth Of Mantra“ ausgetobt zu haben, das wie eine Kreuzung aus Computerspielsoundtrack und Liebesfilm-Score klingt. Einer der Höhepunkte ist „Atom Dance“, das fast harmlos und konventionell startet und ab der Mitte in ungeahnte Höhen abhebt, als plötzlich die Engelsstimme von Antony Hegarty hinzukommt und die Beats vor Freude zu stottern beginnen.

„Vulnicura“ ist etwas mehr als vier Jahre nach dem überambitionierten Multimedia-Projekt „Biophilia“ Björks Rückkehr zu großer Form, vielleicht sogar ihr bestes Album seit „Vespertine“ von 2001. Damals war sie inspiriert von einer neuen Liebe – zu Matthew Barney.

Björk: „Vulnicura“ erscheint bei Embassy of Music.

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