Libanesisches Drama „Capernaum“: Hommage an ein Straßenkind
Das gefeierte libanesische Drama „Capernaum“ erzählt einfühlsam vom Leben in bitterer Armut - und einer ungeheuerlichen Anklage.
Große Kinderaugen, Cello-Elegie, Slow Motion: Man ist schnell skeptisch bei solchen Geschmacksverstärkern für eine Geschichte, die im Elend von Beirut spielt: die Geschichte von Zain, der kein Kind sein darf, weil die Eltern mit der Armut überfordert sind. Die Skepsis ist auch deshalb schnell da, weil dieser Film auf ebenjenem Grat zwischen Realität und Fiktion balanciert, über den gerade so viel diskutiert wird wegen der Causa Relotius, Robert Menasse und Takis Würgers „Stella“-Roman. Geht das, ein Film mit hartem Dokumentarblick und „schön“ gefilmten Totalen, mit malerischen Luftaufnahmen von den Slums in der libanesischen Hauptstadt samt Autoreifen auf den Plastikplanen-Dächern? Mit Darstellern, die erlebt haben, was sie spielen?
Ja, „Capernaum“ bleibt integer, trotz der großen Kinderaugen. Schon weil die Kamera nur selten die Vogelperspektive einnimmt und sich lieber in den staubigen Straßen bewegt, auf Augenhöhe mit dem vielleicht zwölfjährigen Helden. Sie ist so unruhig, so überfordert, so atemlos wie Zain. Der steht bald vor Gericht, wegen einer Gewalttat, und dann noch einmal. „Ich klage meine Eltern an, weil sie mich in die Welt gesetzt haben“, sagt der Junge. Ein ungeheuerlicher Satz.
„Capernaum“ erzählt, wie es zu der Anklage kommt. Wie es kommt, dass Zain und seine vielen Geschwister keine Papiere haben, dass er offiziell nicht existiert, weil die Eltern es sich nicht leisten können, die Kinder zu registrieren. Wie er schuftet für ein paar Münzen, Waren austrägt, Gasflaschen schleppt. Wie die Kinderschar auf einer Matratze schläft, selbst gemachten Gemüsesaft am Bordstein verkauft und beim „Drogengeschäft“ der Erwachsenen mithilft. Sie dealen mit Schmerztabletten-Wasser.
Zain versucht vergeblich zu verhindern, dass seine elfjährige Schwester an Assad verschachert wird, seinen Arbeitgeber, der auch noch die Bruchbude vermietet, in der die Familie haust. Er greift zum Messer, vor Wut über die Brutalität der Erwachsenen. Und nimmt aus dem Augenwinkel die anderen Kinder im Schulbus wahr – eine Sehnsucht ohne jede Hoffnung.
In Cannes erhielt der Film stehende Ovationen
Zain läuft von zu Hause weg und gerät an Rahil, eine Äthiopierin, die illegal auf dem Rummelplatz jobbt und ihren kleinen Sohn Yonas im Einkaufswagen versteckt. Mit den beiden wohnt er fortan im Slum, kümmert sich um Yonas, hält ihn bei Laune mit Getrommel und Singsang und mühsam beschaffter Nahrung.
„Capernaum“ ist der dritte Spielfilm der libanesischen Regisseurin Nadine Labaki. Er wurde 2018 in Cannes uraufgeführt und mit 15-minütigen Ovationen gefeiert. Am Ende gewann er den Preis der Jury. Die Geschichte könnte auch in Rio, Mumbai oder einem Flüchtlingslager irgendwo in Europa spielen, sie ist so ungeheuerlich wie Zains Anklage. Ein Zwölfjähriger muss sich um einen kaum Zweijährigen kümmern, ernährt den kleinen Yonas mit Zucker und Eiswürfeln, bindet ihn in der Not mit einem Strick am Fuß fest. So kennt er es von seiner eigenen Familie. Oder er zieht ihn auf einem Skateboard mit festgezurrtem Kochtopf durch die Gassen, ein schepperndes Gespann auf der Suche nach der Mutter.
Zain gibt seinen kleinen Bruder an Schleuser
Zain weiß sich zu helfen, bis er sich nicht mehr zu helfen weiß. Bis aus dem Wasserhahn nur noch braune Brühe tropft und eines Tages selbst der Wellblechverschlag versperrt ist: ihr kümmerliches „Zuhause“. Zain gibt auf, auch er muss Yonas nun an einen dieser Männer verschachern, die aus dem Elend Profit schlagen. Einen Typen, der verspricht, Zain nach Europa zu schleusen.
Ein Traum. Wenn da ein Kind stirbt, hat es natürliche Ursachen, sagt das Straßenhändlermädchen und erklärt Zain, wie man bei der Arbeit zwischen fahrenden Autos die weibliche Kundschaft anhand des Schmucks unterscheiden kann. Europa bleibt für die beiden ein Traum.
Straßenkinder. Kinderarbeit. Kinderhandel. Illegale Migranten, dazu die Hackordnung des Elends, in der Philippininnen mehr „wert“ sind als Äthiopierinnen: Nadine Labaki hat bei den Ärmsten der Armen recherchiert, in Jugendgefängnissen und Besserungsanstalten. Ihr Hauptdarsteller Zain al Rafeea, ein Flüchtlingsjunge aus Syrien, konnte inzwischen mit seiner Familie nach Norwegen emigrieren und geht dort zur Schule. Yordanos Shiferaw aus Eritrea, die Darstellerin von Rahil, wuchs in einem Flüchtlingscamp in Äthiopien auf, versuchte im Libanon über die Runden zu kommen und wurde während des Drehs tatsächlich verhaftet.
Labaki castete von der Straße weg, in den Elendsvierteln. Ein Richter spielt den Richter, die Regisseurin taucht kurz als Zains Anwältin auf. Auch auf diese Weise steht sie Zain zur Seite, erklärt sie sich und den Film zu Verbündeten.
Capernaum, Kafarnaum, heißt eine Stadt in der Bibel. Ein Fischerdorf am Nordufer des Sees Genezareth, eine Grenzstadt, die vom Erdbeben zerstört wurde. Ein Ort des Chaos. Der Zuschauer sitzt mit auf der Anklagebank in „Capernaum“. Weil die Welt im 21. Jahrhundert es zulässt, dass Kinder heillos auf sich gestellt sind, dass sie zur Ware werden. Dass sie kein Recht auf Kindheit haben. Am Ende lächelt Zain, ein einziges Mal. Es ist für sein Passfoto.
In 11 Berliner Kinos. OmU: Delphi Lux, Filmrauschpalast, fsk am Oranienplatz, IL Kino, Kino in der Kulturbrauerei, Bundesplatz-Kino, Hackesche Höfe