Xavier Naidoo in Berlin: Höhere Mächte befahlen: rechte obere Ecke rosa malen!
Eine Stimme wie ein Gottesgeschenk: Xavier Naidoo zelebriert seine wunderbar rätselhaften Songs in der ausverkauften Waldbühne - und seine Fans erweisen sich als ebenso textsicher wie sangesfreudig.
Ach, Xavier, weißt du noch? Du und ich vor dem Haus der Offiziere in Wünsdorf? Muss Ende der Neunziger gewesen sein. Auf jedem Fall nach deinem Debüt „Nicht von dieser Welt“ und das kam 1998. Märkischer Landregen rauschte auf die matschige Wiese. Die Russenkaserne drohte düster. Und unter den versprengten paar hundert Biertrinkern und Bratwurstessern hörte nur ich ganz allein deinen bittersüßen Lyrics so richtig mit Hingabe zu.
Bei dem wunderbaren Song „20 000 Meilen“ lauteten die so: „1000 fette Jahre stehen uns bevor / Drum zeig, wozu wir fähig sind. / Mach meine Tür zu einem himmlischen Tor / Durch das man goldene Gaben bringt./ Es geht um mein Leben / Ich leg es in deine Hand / Komm mir entgegen in unserem heiligen Land.“
Damals, da haben Kritiker und andere Zyniker dich für diese mystischen neubiblischen Verse über einem satten, langsamen Beat als elenden Hip-Hop-Bedeutungshuber, rappende Kitschkuh und bigotten Soulpfarrer beschimpft. Doch ich neigte in Demut mein feuchtes Haupt und wusste, dass der besten Mannheimer Soulstimme nach Joy Fleming die goldene und platine Zukunft gehört.
Sonntagabend im tropisch tropfenden Kessel der ausverkauften Waldbühne hat sie sich erfüllt: „Hello Berlin!“, ruft Xavier Naidoo nach dem Introblock aus den drei Songs „Bei meiner Seele“, „Bist du am Leben interessiert“ und „Bevor du gehst“. Und dann kommt es: „Wir sind 20 000 Meilen über dem Meer …“, und außer mir singen 21999 Leute jede Zeile mit! Wohlgemerkt, eben nicht nur bei der später erklingenden 2006er-WM-Hymne „Dieser Weg“, die der sonst so ironiefreie Naidoo dem Herrn sei Dank selbstironisch als „Mein Wanderlied“ anmoderiert – sondern bei einer Ballade vom allerersten Album.
Xavier Naidoo ist 42, seine Karriere 16 Jahre jung, da ist die Textsicherheit der Leute ziemlich erstaunlich. Sollte der „Söhne Mannheims“-Mitgründer, einst wegen Drogen und Autoraserei auf Bewährung verknackt, der erste deutsche R-’n’-B-Volkssänger sein? Genau das ist er. Ein Soulschlagerpopstar, der mit seinem Tarnlook aus Käppi und Sonnenbrille und seinen mantraartigen Danksagungen an alle und für alles in der schon vorm ersten Ton tosenden Waldbühne cool und warm zugleich wirkt und die Leute dazu bringt. unaufsagbare Reime flüssig mitzusingen.
Das kommt nicht von ungefähr: Genau wie das letztjährige Soloalbum stieg auch jedes der vier vorherigen auf Nummer eins in die deutschen Charts ein. Dort stand auch monatelang seine im Mai erschienene Compilation „Sing meinen Song – Das Tauschkonzert“, die die gleichnamige Fernsehshow covert. Populärer geht’s nimmer. Wobei die Texte seit dem genialen kryptisch-christlichen Wurf von „Nicht von dieser Welt“ nicht durchweg das selbst gesteckte Rätselniveau gehalten haben. Und im Fall des mit Rapper Kool Savas fabrizierten Albums „Gespaltene Persönlichkeit“, auf dem sie gegen Kinderschänder mobil machen, sogar – folgenlos – die Staatsanwaltschaft auf den Plan riefen.
Den bösen Xavier hat Naidoo nicht mit in die Waldbühne gebracht. Da ist er ganz Liebe, ganz Staunen ob des überwältigenden Bildes zu seinen flink tanzenden, beturnschuhten Füßen. Der Sound ist nach kleinen Eingangskorrekturen großartig. Seine klassisch mit Drums, Keyboard, Bass und Gitarre besetzte Band wechselt virtuos die knackigen Rhythmen. Die aus farblich verfremdeten Konzertdetails und produzierten Einspielern zusammengefahrenen Animationen im Bühnenhintergrund sind so stylish wie das Licht. Und Xavier Naidoos Gesang ist süß, sanft oder druckvoll, kurz: überragend. Eine Stimme wie ein Gottesgeschenk, was niemand besser weiß und niemand lauter sagt, als der römisch-katholisch erzogene, ehemalige Kirchen- und Gospelchorsänger.
Dass seine Arrangements inzwischen schmutziger, rockiger, gitarrenlastiger rüberkommen war schon auf dem letzten Album so. Bei der aktuellen „Hört Hört“-Tour kommt jetzt noch ein Stich Daft Punk hinzu. Zu den über die Leinwände zuckenden psychedelischen Schwarz-Weiß-Ornamenten singt er drei, vier Nummern im verfremdeten Vocoder-Sound. Da sinken die Arme des aus auffallend vielen attraktiven Menschen, um nicht zu sagen schönen Frauen (mal mit Tochter, mal mit Mann), bestehenden Publikums. Bei diesen Experimenten ihres Meisters gehen in den mit wohltuend wenig Moderationsgefasel und viel Musik bestückten zwei Stunden nicht alle Jünger mit.
Aber bei den Gemeinschaftsgefühl und Romantik beschwörenden Wortgirlanden von „Was wir alleine nicht schaffen“, „Ich kenne nichts“ oder der wunderschönen frühen Ballade „Führ mich ans Licht“, da steht der Chor der Zehntausend wie eine Eins. Alle lieben den wunderlichen, vielleicht an ein ungeborenes Kind, vielleicht an ein höheres Wesen gerichteten Text, der zu jeder beliebigen Projektion einlädt. Was immer er bedeuten mag, die suggestive Kraft der Worte funktioniert. Das ist der in der abendmilden Waldbühne prima zündende Naidoo’sche Wallungswert.
P.S.: Aber dass du dich – quasi unter Volkssängern – neuerdings mit dem nervigen Alpenschlagerrocker Andreas Gabalier verbrüderst, Xavier, und zur Akustikklampfe eine seiner Schmonzetten auf Steiermärkisch singst, das nehme ich dir schon ein bisschen übel.
Gunda Bartels
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