RAF-Roman von Frank Witzel: Hauptsache, schnell in den Knast
Politik, Pop und Pubertät: Frank Witzel inszeniert den 800-seitigen Prosarausch „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“.
Man muss diesen Autor schon für das Risiko schätzen, das er eingegangen ist: Wer versucht sich freiwillig an einer Epochengeschichte, in der Pubertät, Pop und Politik in Form eines fragmentierten Entwicklungsromans aufeinander bezogen werden? „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ lautet der maßlose Titel von Frank Witzels 800-Seiten-Prosa-Rausch, und man muss sich auf einiges gefasst machen, wenn man in die kleine und dann immer größer und durchgeknallter werdende Welt dieses Teenagers eindringt. Witzels Roman ist ein fantastisches Ungeheuer. Das mehrdimensionale Porträt einer Generation der heute 60-Jährigen. Und der Triumph eines bisher zu Unrecht übersehenen Autors.
Neben dem Titelhelden, den wir in manchen Kapiteln auch als Erwachsenen erleben, ergreifen noch einige andere Figuren das Wort. Sie gruppieren sich in unterschiedlichen Abständen um jenen kaum fassbaren Teenager, ständig wechseln die Perspektiven, und zuweilen kann man nur ahnen, wer gerade spricht, wo die übersteigerte Wahrnehmung einer Figur sich im Wahn auflöst. Verschiedenste Textsorten stehen Frank Witzel in 99 Kapiteln zur Verfügung: von der Kurzgeschichte über kleine Porträts, Dialoge, Verhörsituationen bis zu Kurzhagiografien der RAF-Mitglieder. So verschwimmen nach und nach die Konturen, es entsteht ein Bewusstsein für die Vielschichtigkeit von Wirklichkeitswahrnehmung und Erinnerung. „Im Wahn findet alles gleichzeitig statt, erlebe ich parallel die ganze Historie meines Lebens und das, was an beiden Seiten über sie hinauslappt. Ich tauche gleichermaßen in das Dunkel meiner Geburt wie das meines Sterbens ein, und jede Handlung zersplittert in ein unendliches Kaleidoskop von Möglichkeiten.“
Das Denken formt sich anhand von Dichotomien
Dieses Kaleidoskop von Möglichkeiten haben wir vor uns, eine im Irrsinn sich zersetzende, in Wahrheit aber erst konstituierende Welt. Der 1955 in Wiesbaden geborene Schriftsteller und Musiker Frank Witzel, der bereits mehrere Romane in kleineren Verlagen veröffentlicht hat, legt mit diesem Buch sein Opus magnum vor. 15 Jahre lang hat er an dieser literarischen Psychostudie der sechziger und siebziger Jahre gearbeitet.
Witzels jugendlicher Erzähler versucht mit seinen 13 Jahren die selbst in Wiesbaden-Biebrich schon unübersichtlich gewordene Welt zwischen Kirche, Familie und Politik zu begreifen, flüchtet sich in Fantasien und in die mit absurder Bedeutung aufgeladene Musik der Beatles, bricht schließlich zusammen und landet in einem Sanatorium, in dem der Psychologe Dr. Märklin und der Pfarrer Fleischmann erbittert um seine Seele ringen. Märklin oder Fleischmann – das sind in diesem Fall nicht nur Entscheidungen, die im Kinderzimmer getroffen werden: Wie und mit welchen Mitteln baut man sich die Welt im H0-Maßstab nach? Märklin oder Fleischmann, das steht für das Strukturprinzip bundesdeutscher Sozialisation seit den fünfziger Jahren: Das Denken formt sich anhand von Dichotomien: Geha oder Pelikan, Beatles oder Stones, Hippietum oder RAF, BRD oder DDR. Freund und Feind, die alte Carl Schmitt’sche Kategorie des Politischen, ist dem Teenager der sechziger Jahre in Fleisch und Blut übergegangen. Witzels Protagonist wird aufgerieben zwischen Rationalität und Mystizismus. Und weil er zwischen die Fronten gerät, muss er sich ein eigenes Universum schaffen.
Ein Buch über Ideologien - ganz unideologisch
Der Katholizismus spielt in diesem Roman eine ebenso große Rolle wie der französische Poststrukturalismus, der manche ideologischen Verhärtungen der siebziger Jahre aufzubrechen half. „Kann ich den Staat nicht fassen“, schrieb Rainald Goetz 1988 in seinem RAF-Roman „Kontrolliert“, „hieß die Konsequenz Rekonstruktion der Konstruktion des staatlichen Gesamtgebäudes.“ Bei Frank Witzel geht es um die Dekonstruktion der Rekonstruktion der Konstruktion eines pubertären Wahngebäudes, das von hunderten kleinen Büchern, Schallplatten, Filmrollen getragen wird. Ein großes Register gibt in diesem beeindruckenden Zeitroman Auskunft über die idiosynkratischen Referenzen, die in „Die Erfindung der RAF“ Eingang finden, und schon die Lektüre dieses Verzeichnisses erzeugt zuweilen lustige Korrespondenzen, etwa wenn sich „Derrick“ in direkter Nachbarschaft zu „Derrida“ findet – damit ist die Bundesrepublik der späten siebziger Jahre ziemlich genau charakterisiert.
Frank Witzels Buch handelt von Ideologien und ist dabei ganz unideologisch, auch in der Art und Weise des Erzählens, eines wilden, oft nicht recht fassbaren Sprechens mit verschiedenen Stimmen, die sich nicht nur eindeutiger Zuordnung entziehen, sondern zudem die eigenen Spuren verwischen. Die Dialoge, aber auch etliche andere Textformen in der „Erfindung der RAF“ sind dabei von geradezu entlarvender Komik.
Nicht so, als würde der Ernst der Problematik – das Verlorengehen eines Ichs – ins Lächerliche gezogen. Vielmehr zeigt sich im Witz die Absurdität der großen Erzählungen, der Mangel an Empathie derjenigen, die Deutungshoheit beanspruchen, die Fratzenhaftigkeit der Geschichte.
Waghalsige Mentalitätsanalyse einer Generation
Gegen die Farce hilft nur das Lachen: „Die zweite Generation der RAF wurde aus den ausgeschlagenen und in einem Warmbeet hinter einem Hochhaus im Berliner Bezirk Schöneberg eingepflanzten Zähnen der toten Mitglieder der ersten Generation gezüchtet. Diese Sprösslinge trugen keine langen Haare und Bärte mehr, sondern Pilotenbrillen und Kurzhaarfrisuren. Von Sprengstoff hatten sie keine Ahnung. Sie nannten sich Epigonen und wollten das Goldene Vlies des Kapitalismus scheren. Theorie war ihnen unwichtig. Hauptsache schnell in den Knast.“ Die ironische Distanzierung gelingt manchen der auftretenden Erzähler. Der Teenager hingegen, die Disziplinierungs-Institutionen Schule, Sanatorium, Konvikt durchlaufend, verharrt in einer Schleife von Schuld und Scham und Unwissenheit. Aber er hat seine Fantasie, die Fluch und Segen ist, eine Notwendigkeit, sich mit der Realität anzufreunden.
Wie Frank Witzel das Abdriften in mythische Welten in immer neuen Anläufen schildert, wie viele Geschichten er in diese eine Geschichte packt, wie er mit den Stoffmassen jongliert, ist schlicht großartig. Es wird wohl eine ganze Weile dauern und eine Legion penibler Leser brauchen, um alle Schichten dieses Mammutwerks freizulegen. „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ ist ein imposanter Roman über unsere jüngste Vergangenheit, die waghalsige, irritierende und herausfordernde Mentalitätsanalyse einer Generation und ein lustvoll inszeniertes, multiperspektivisches Sprachgewitter.
Frank Witzel: Die Erfindung der RAF durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969. Roman. Matthes & Seitz, Berlin. 2015. 830 Seiten, 29,90 €.
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