Gudrun Ensslin: Gruppenbild mit Kriegskind
Am Sonntag wäre eine der Protagonistinnen der RAF 70 Jahre alt geworden. Ererbte Schuld, gelebte Gewalt: Gudrun Ensslin und das Dilemma einer Generation.
Gudrun Ensslin. Ihr Name ist mit dem von Andreas Baader zur Chiffre für den gewaltsamen Widerstand gegen die alte Bundesrepublik geworden; die Auseinandersetzungen um ihre Rolle halten jedoch an. Was würde sie heute über ihr Leben und ihre politische Bedeutung sagen; welche Positionen und Aktionen würde sie nachträglich anzweifeln? Würde sie, die sich neben Schriften von Rosa Luxemburg und Marcuse auch Werke von Sigmund Freud ins Gefängnis schicken ließ, ihr Handeln kritisch befragen? Die Forderungen der RAF wirken längst merkwürdig fern, der Sprachduktus hingerotzter Sätze in Ensslins Briefen und Schriften bisweilen skurril. Gleichzeitig stehen ihre radikalen Überzeugungen im Kontrast zur oft spürbaren Müdigkeit der heutigen Diskussionskultur.
Freilich ist es gefährlich, Ensslins terroristische Aktivitäten als politisches Abenteurertum zu romantisieren. Es würde ihre brachial artikulierte Gewaltbereitschaft verharmlosen und die Tatsache ignorieren, dass die Emotionalität, mit der die RAF gegen die etablierte Ordnung kämpfte, in einer spezifischen gesellschaftlichen Situation wurzelte.
Gudrun Ensslin wurde auch deshalb zu einer Ikone ihrer Generation, weil sie sich stellvertretend an einem seelischen Dilemma aufrieb. Wie kann man als Kind nationalsozialistischer Mörder, Handlanger oder Mitläufer zu einer Identität finden, die absurd ererbte, gleichsam mit der Muttermilch übertragene Schuld in Unschuld verwandelt? Wie sich mit den Eltern und ihrer Schuld identifizieren und zugleich zu einem positiv besetzten Selbstbegriff gelangen? Einfache Distanzierung erwies sich als Mittel dafür untauglich: Als früheste Vorbilder und Objekte inniger Liebe waren auch diese Eltern in den entstehenden Schichten des Seins immer schon präsent und schwer zu verscheuchen.
Dieses Dilemma fermentierte in den von Verleugnung, Abwehr und Schweigen geprägten Wirtschaftswunderjahren zu einer Kultur emotionaler Erstarrung. Die RAF brach mit dieser Kultur und förderte untersagte Gefühle zutage: Hass, Verachtung, Zerstörungswut, Sadismus. Die Radikalität des Bruchs, die Sprengkraft des bis dahin Abgewehrten war so enorm, dass es sich in Gewalt ausdrückte: in Kaufhausbrandstiftungen, Entführungen, Bombenanschlägen. Die NS-Gesellschaft, die sich zur nachträglichen Rechtfertigung auf Gehorsamkeitsideale zurückgezogen hatte, sollte mit extremer und extremistischer Gehorsamkeitsverweigerung in ihrem moralischen Versagen bloßgestellt werden.
Erst allmählich wurde die tragische Dimension des Guerillakampfs deutlich. So sehr das Agieren der RAF den Bruch mit den familiären Identifikationen verhieß, so sehr setzte es sie zugleich unbewusst fort. „Das Böse“, das sadistisch verfolgt und ausgelöscht werden sollte, kehrte unter neuen Vorzeichen wieder. Es wurde zwar als Ausdruck moralischer Notwendigkeit propagiert, produzierte aber neue, diesmal selbst verantwortete Schuld.
Darin aber zeigte sich auch ein Paradox: Gudrun Ensslin handelte nicht nur in radikaler Abgrenzung zu ihren Eltern, sondern zugleich in deren Sinn. Ein Indiz: Anlässlich ihrer Prozesse in den 70er Jahren brachte ihr Vater subtiles Lob zum Ausdruck. Kolportiert wird außerdem, dass der Pfarrer seinen Kindern Dokumentarfilme über den Holocaust und die Gräuel der Nazizeit zeigte. Das Erschrecken über die eigene Rolle im Nationalsozialismus wollte er offenbar durch die Befriedigung lindern, wenigstens die Kinder über die Nazis aufgeklärt zu haben.
Hinter dem Wunsch, die Kinder zu Demokraten im Sinne eines „Nie wieder!“ zu erziehen, steckt jedoch auch Empathielosigkeit gegenüber der Wirkung solcher „Aufklärung“ – mit Bildern, die Kinder überfordern. Ein subtil sadistischer Akt, vielleicht auch aus Neid auf die Unschuld der Kinder? Mit ihren hasserfüllten Aktionen gegen die Autoritäten der Bundesrepublik begehrte die RAF-Aktivistin Ensslin auch gegen solch moralische Instrumentalisierung auf, aus der es aber kein Entrinnen gab – das Aufbegehren war ja ebenfalls elterlich verordnet.
Das kurze Leben der Gudrun Ensslin, die mit 37 Jahren tot in Stammheim aufgefunden wurde, verweist nicht zuletzt auf eine Merkwürdigkeit der aktuellen Kriegskinder-Diskussion. Eigentlich stellen die frühen Fahndungsplakate der RAF ja eine Art Kriegskinder-Gruppenfoto dar. Ist heute jedoch von Kriegskindern die Rede, so stehen ihre Traumatisierungen und Entbehrungen im Mittelpunkt; es geht dann um Ideologie und Praxis des nationalsozialistischen Erziehungsalltags, um die Vereinnahmung des Kindes für elterliche Bedürfnisse. Welche Verwundungen und Konflikte mögen sich hinter Ensslins Kämpferinnenfassade verborgen haben? Waren die Brüche in ihren Beziehungen zu Bernward Vesper oder ihrem Sohn Felix, den sie schon kurz nach seiner Geburt nicht mehr wiedersehen sollte, Ausdruck seelischer Brüche, typisch für ihre Generation? In ihren Briefen aus dem Gefängnis formuliert Ensslin in epischer Breite Wünsche – oder bellt barsche Bestellungen heraus –, bei denen warme Kuschelpullover und dicke Socken oben auf der Liste stehen. Hilfsmittel gegen das Frösteln in der Isolationshaft in Nachkriegsdeutschland.
Versucht man, Ensslins Leben als das eines typischen Kriegskinds zu verstehen, wird deutlicher, wie sehr die Gewalt der RAF Ausdruck einer paradoxen Hoffnung war: der Hoffnung, die Anschläge könnten Befreiungsschläge sein, ein Ausweg aus einem Leben in ambivalenten TäterOpfer-Verstrickungen. Michael Hanekes preisgekrönter Film „Das weiße Band“ erzählt vom vergleichbaren Dilemma derer, die als Kinder die schwarze Pädagogik kurz vor dem Ersten Weltkrieg erlebten. Sein Film ist eine Albtraumfantasie über die Kindheit der späteren Nazis. Und Andres Veiel dreht gerade seinen Spielfilm „Wer wenn nicht wir“ über die „Urszenen“ der RAF. Auch er lotet das Politische im Privaten aus und spricht vom „Auftrag“, der von den Ensslin- und Baader-Eltern auf die Kinder übertragen wurde.
Im Osten Deutschlands war das Dilemma scheinbar eleganter gelöst: Da sich Eltern und Gesellschaft als schuldfrei stilisierten, erübrigte sich ein Aufbegehren der Kriegskinder auf der Suche nach moralisch sauberer Identität. Seit dem Mauerfall hat auch diese Illusion Risse bekommen. Gudrun Ensslin, die Westdeutsche, bleibt ein ambivalenter Bezugspunkt für die gesamtdeutsche Gesellschaft.
Die Autorin lebt und arbeitet als Psychoanalytikerin in Berlin.
Vera Kattermann
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