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Von Pfeilen durchbohrt. Lucy Skaers Installation „La Chasse“, 2017, im Obergeschoss der Kunst-Werke in der Auguststraße.
© Frank Sperling

Lucy Skaer in den Berliner Kunst-Werken: Hase im Unterholz

Empathie für Jäger und Gejagte: Die britische Bildhauerin Lucy Skaer zeigt ihre erste große Einzelausstellung in Deutschland in den Berliner Kunst-Werken.

Sogar der Himmel spielt mit bei dieser feinen Verschiebung von Formen und Mustern. Die tiefe Herbstsonne lässt die Schatten der Fensterkreuze lang werden, die Linien legen sich über die Rechtecke der Bodenfliesen. Auf der Fensterbank hat die britische Künstlerin Lucy Skaer bernsteinfarbene Sichtblenden aus Baumharz eingelassen. Darin eingeschlossen sind Einzelbilder aus ihren Filmen. Sobald der Himmel aufreißt, funkeln die gesprenkelten Lichtbilder rotgolden.

Mit „Available Fonts“, der ersten großen Einzelausstellung von Lucy Skaer in Deutschland, setzen die KW Institute for Contemporary Art ihre Ausstellungsreihe zu Kommunikation, Material und Sprache fort. Die „Verfügbaren Schriftarten“ variieren verschiedene Möglichkeiten der Drucktechnik, nutzen Bücher oder Zeitungen als Ausgangspunkt für neue Horizonte. Man fühlt sich augenblicklich zu Hause in den Räumen von Lucy Skaer – das mag auch daran liegen, dass die sanierten Säle in der Auguststraße mit den freigelegten Ziegelgewölben eine wärmere Akustik bieten als zuvor. Krist Gruijthuijsen, der Direktor der KW, will den Fabrikcharakter des Gebäudes betonen, die beiden Geschosse wirken wieder belebt.

Ein Alphabet, das keine Worte ergibt

Am Eingang der Ausstellung steht eine Reihe antiker Tische. Lucy Skaer hat sie ineinandergeschachtelt und mit einem Rand aus Lapislazuli gefasst. Ein großbürgerliches Esszimmer ohne Funktion. Dahinter hängt der lebensgroße Druck „Thames and Hudson“, der ihrer Installation für die Turner-Preis-Nominierung 2009 den Titel lieh. Druck realisierte Lucy Skaer da im Wortsinn. Sie tauchte einen Stuhl in Tinte und presste seine Silhouette aufs Blatt. Sie zerlegte den Stuhl, setzte ihn neu zusammen und druckte wieder. Ergänzt durch Punkt und Komma entsteht das Gefühl eines Alphabets, das keine Worte ergibt. Thames and Hudson, der Name des Verlagshauses für Kunstbücher, beschreibt auch zwei biografische Stationen der 42-jährigen Künstlerin. Nach der Ausstellung in London am River Thames brach sie auf nach New York, der Stadt am Hudson.

Auf den Tischen liegen weitere Druckwerkzeuge, die zunächst als solche nicht zu erkennen sind. Es könnten Industrieformen sein, T-Träger, Barren oder Balken. Aber die kleinen Skulpturen aus Gips, Porzellan oder Zinn nehmen die Umrisse der Fahrkartenlocher auf, wie sie die Schaffner der Long Island Railroad nutzen. Die Kontrolleure „Rachel, Peter, Caitlin, John“ – so heißt das Werk – verwenden alle eine andere Stanzform für ihren Zangenabdruck. Mit diesen Stanzen hat Lucy Skaer auch ihre Filme in unregelmäßigen Abständen gelocht und so den Bildausschnitt verfremdet.

Eine besondere Form der Nachhaltigkeit

Mit ihrer Prinz-Eisenherz-Frisur, dem dicken Wollpulli und den abgewetzten Jodhpur-Stiefeln vermittelt Lucy Skaer die gleiche bodenständige Präsenz wie ihre Kunst. Sie wuchs in Cambridge auf als Tochter von Wissenschaftlern, studierte später Environmental Art an der renommierten Glasgow School of Art. Während des Studiums gehörte sie zu den Mitbegründerinnen des Kollektivs „Henry VIIIs Wives“, ist aber bis heute springlebendig geblieben.

In Berlin pflegt Lucy Skaer eine besondere Form der Nachhaltigkeit, indem sie frühere Arbeiten wiederverwertet. In die Sockelfliesen, die im oberen Raum die Balustrade rund um den Deckendurchbruch säumen, sind Fragmente aus einer weiteren Arbeit für die Turner-Preis-Ausstellung eingelassen. Skaer schuf die Plastik des rumänischen Bildhauers Brancusi „Bird in Space“ in Kohlestaub nach und vervielfältigte sie. Jetzt ist der Vogelschwarm geschreddert. Während Brancusis Original einen Rekordpreis erzielte, schmückt Skaers Wiederverwertung den Mauerfuß.

Flammen züngeln über verblassten Buchstaben

„La Chasse“, die neue Rauminstallation im Obergeschoss, ist angeregt von dem „Livre de Chasse“, einem Handbuch für Jäger aus dem 14. Jahrhundert. „Wenn man eine andere Art von Empathie anwendet, ändert sich der gesamte Blick“, sagt die Künstlerin. Unter drei Dreiecken aus Edelholz ragt ein Hasenlauf hervor. In den geometrischen Formen stecken Pfeile. Kissen aus Ton, die unversehrt mit ihren geschrägten Kanten an geschliffene Juwelen erinnern, sind geknautscht, gerollt und geknickt. Der empathische Blick schärft das Bewusstsein für Jäger und Gejagte, Gewinner und Verlierer.

Denn in die harmonische Raumgestaltung integriert Lucy Skaer unbequeme Gedanken. Seit 2013 überlässt die Zeitung „The Guardian“ der Künstlerin die benutzten Druckplatten. In zwei Übermalungen züngeln Flammen über die verblassten Buchstaben. Die Ausgabe der Zeitung hatte vom Brand im Londoner Grenfell Tower berichtet. In den recycelten Druckplatten überlagern sich Fragen zu Material, Ökonomie und Ökologie.

Weil Lucy Skaer unscheinbare Alltagsformen in ungewohnter Weise einsetzt, entsteht in den Räumen eine faszinierende Mischung aus Behaglichkeit und Widerspenstigkeit. Die Ausstellung funktioniert wie ein Puzzle, dessen Teile nie zusammenpassen. Die sperrige Sprache von Material und Objekten schürt die Neugier, ohne sie zu stillen.

KW Institute for Contemporary Art, Auguststr. 69, Mitte, bis 7. 1.; Mi–Mo 11–19, Do bis 21 Uhr

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