Theaterland Deutschland: Harz wir
Der Ruf der Kulturnation Deutschland wird in der Provinz verteidigt. Zum Beispiel in Halberstadt und Quedlinburg, wo nur 165 Mitarbeiter jede Saison die 500 Vorstellungen des Nordharzer Städtebundtheaters stemmen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat 888 Bühnen. Die Zahl stammt von Monika Grütters, die sich als Kulturstaatsministerin für diese weltweit einmalige Spielstättenvielfalt zuständig fühlt, zumindest symbolisch. Im Föderalismus ist die Förderung von Kunst und Kultur eigentlich Sache der Länder – ein Privileg, das diese wiederum gerne weiter delegieren. 44 Prozent der Kulturleistungen erbringen die Kommunen, 42 Prozent die Länder, 12 Prozent kommen vom Bund und aus privaten Schatullen. Kultur wird in Deutschland traditionell von unten finanziert – weil sie ja auch für die Basis gedacht ist, für alle Bevölkerungsschichten. In Berlin, wo sich je nach Institution Bildungsbürgertum oder Avantgarde-Hipster mit Touristen aus aller Welt zum kosmopolitischen Parkettpotpourri vermischen, wird das nur selten augenfällig. Da muss man schon in die Provinz reisen.
Der Ruf der Kulturnation Deutschland wird an Orten wie Halberstadt verteidigt. Die goldenen Zeiten liegen hier, im nördlichen Harzvorland, schon lange zurück. Drei monumentale Kirchenbauten zeugen davon, welcher Wohlstand im 12., 13. Jahrhundert geherrscht haben muss. Im April 1945 aber fiel die ganze Pracht in Schutt und Asche, 83 Prozent des Innenstadtgebiets wurden zerbombt. Auch vom Stadttheater blieben nur Ruinen. Schon 1947 begannen die Halberstädter, eine neue Bühne zu errichten – aus Trümmerteilen. In jenem expressionistischen Stil, der vor 1933 für architektonische Avantgarde gestanden hatte, wurden Saal und Foyer gestaltet, mit unverputzten Backsteinwänden, die durch quer gestellte, hervorspringende oder raffiniert gestaffelte Steine eine lebendige Struktur erhalten. Am 3. September 1949 konnte das neue Haus eröffnet werden, als einer der ersten Nachkriegs-Theaterbauten in Deutschland.
Von außen allerdings gleicht das Gebäude eher einer Scheune. Eine repräsentative Fassade mit Säulen und Balkon gibt es nicht, der Besucher muss das Haus regelrecht suchen zwischen den schmucklosen 50er-Jahre-Wohnblocks hier am Rande der historischen Innenstadt. Von der Straße aus ist der Schriftzug „Nordharzer Städtebundtheater“ hinter einer Blumenrabatte leicht zu übersehen. Hat man den Hof überquert und die unscheinbare Eingangstür passiert, öffnet sich überraschend eine elegante, kreisrunde Kassenhalle, die von einem nackten Mädchen dominiert wird. Die griechisch anmutende Statue konnte aus dem Vorkriegs-Theaterbau gerettet werden. Über ihrem Kopf schwebt ein spinnenarmiger Leuchter aus DDR-Produktion.
Theater, ganz ungeschminkt. Das archaische Ambiente macht auf entwaffnende Weise klar, was hier gespielt wird. Kultur für alle nämlich. Große Kunst für kleines Geld. Die teuersten Tickets liegen bei 25 Euro, selbst bei Opernpremieren, im Jugendabo gibt es vier Aufführungen für 20 Euro.
Im deutschen Kulturfördersystem gilt: Je kleiner die Stadt, desto günstiger die Preise. Weil im Durchschnitt 80 Prozent der Theateretats vom Staat kommen. Darum beneidet uns die ganze Welt.
Der Halberstädter Saal bietet knapp 500 Menschen Platz, im benachbarten Quedlinburg, das seit 1992 zum „Nordharzer Städtebundtheater“ gehört, gibt es 285 Plätze. Der Chor hat 13 Mitglieder, das Orchester 36, es gibt 14 fest angestellte Gesangssolisten, im Schauspielensemble sind sie zu siebt, genau wie bei der Ballettkompanie. 165 Mitarbeiter stemmen fast 500 Vorstellungen pro Saison, im Sommer wird den einzelnen Sparten ihr Urlaub nur zeitversetzt gewährt, weil ja noch das Bergtheater Thale am Hexentanzplatz bespielt werden will. Und dann sind da natürlich die so genannten Abstecher, also die Gastspiele in Wernigerode und Wolfenbüttel, Gifhorn und Hoyerswerda, manchmal sogar in Stade oder Neuburg an der Donau. Die Halberstädter Künstler kann man nämlich mieten, Sinfoniekonzerte kosten 4000 bis 6000 Euro, Jugendtheater ist schon ab 2000 Euro zu haben. Die Dekorationen werden mit theatereigenen Lkw transportiert, die Darsteller reisen in gecharterten Bussen hinterher. Im Harz und on the road werden so 100 000 Besucher pro Jahr erreicht.
Wer nicht brennt für seinen Beruf, wird in der Provinz verheizt. In bis zu acht unterschiedlichen Produktionen spielen die jungen Schauspieler hier in einer Spielzeit, für ein Anfängergehalt. Die bundesweit festgelegte Mindestgage beträgt 1650 Euro, brutto selbstverständlich. Andererseits dürfen in Halberstadt selbst Novizen Hauptrollen in den ganz großen Klassikern spielen. Gerade hatte Shakespeares „Sommernachtstraum“ Premiere, in der nächsten Saison gibt es Kleists „Amphitryon“, in der Oper den „Freischütz“. Sie haben hier auch schon Puccinis „La Bohème“ gewuppt oder Wagners „Lohengrin“. Mit 36 Musikern.
"Überall drohen leere Kassen der Bundesländer und Kommunen."
„Überall drohen leere Kassen der Bundesländer und Kommunen, Bühnenlichter ausgehen zu lassen, obwohl Deutschland genau genommen ein reiches Land ist. Das muss ein Ende haben.“ Schreibt Andreas Henke, der Halberstädter Oberbürgermeister, in seinem Grußwort für die Theatersaisonbroschüre. Eine Seite weiter schwärmt sein Quedlinburger Kollege Eberhard Brecht vom Erlebnis Livekultur: Sicher sei es günstiger, Kultur im Kino zu zeigen, jene Übertragungen, die von der New Yorker Met oder Londons Covent Garden Opera House als Alternative angepriesen werden. Doch „die sterile Trennung zwischen Produktion und Konsumption führt zu Entfremdung und Langeweile“, findet Brecht. Im Gegensatz zum Stadttheater-Prinzip: „Wir kennen die Künstler mit Namen und sind gespannt auf ihre Interpretationen. Wir wollen mit Freunden über die aktuell erlebte Kunst diskutieren, uns dabei in die Augen schauen können und nicht nur über Blogs kommunizieren.“
In den achtziger Jahren hatte Halberstadt 47 000 Einwohner, heute sind es noch 40 000. In der örtlichen Shoppingmall macht schon die Liste der Mieter klar, wie es um die Kaufkraft steht, in der Pizzeria „Pinocchio“ kostet kaum ein Gericht über sechs Euro, dienstagabends gibt’s noch einmal 50 Prozent Rabatt. Die Lokalpolitiker wissen hier, was sie an ihrem Theater haben, und die Künstler legen sich mächtig ins Zeug, spielen zahllose Schulvorstellungen am Vormittag, kommen mit ihren Instrumenten oder Requisiten in die Schulen, laden die Lehrer zum Generalprobenbesuch ein, bieten Kinderworkshops in den Ferien an. Und ringen um Zuhörer fürs Zeitgenössische: „Dialog“ heißt eine Reihe, bei der neue Texte in szenischen Lesungen vorgestellt werden, inklusive Stückeinführung und Publikumsgespräch. Der Spielort „Alte Kantine“ verrät, dass hier kein Massenansturm erwartet wird.
„Trotz alledem“ könnte auch als Motto über der „Orchesterwerkstatt für junge Komponisten“ stehen, die jedes Jahr in Halberstadt angeboten wird. Johannes Rieger, in kostenminimierender Personalunion zugleich Intendant und Musikchef, nimmt sich dann drei Tage Zeit, um mit seinen Musikern Partituren von Anfängern einzustudieren. Das macht republikweit keiner in dieser Form. Diesmal war der jüngste Teilnehmer 14 Jahre, der älteste 22. Die meisten hören ihre eigene Musik hier zum allerersten Mal in sinfonischer Stärke. Die Praxiserfahrungen, die sie hier bei den Proben sammeln können, prägen oft nachhaltig ihren künftigen künstlerischen Weg.
Provinz ist, wenn man’s trotzdem macht. Mit 6,76 Millionen Euro muss der „Zweckverband Nordharzer Städtebundtheater“ in dieser Saison auskommen. Das geht nur, weil die Mitarbeiter seit neun Jahren Gehaltsverzicht leisten. Würde in Halberstadt und Quedlinburg nach dem Flächentarifvertrag bezahlt, bräuchte Verwaltungsdirektorin Gisela Wowereit 950 000 Euro mehr. Für die nächsten fünf Jahre immerhin ist der Spielbetrieb durch einen Fördervertrag gesichert.
Im März übrigens hat Monika Grütters erstmals die Kulturminister aller Bundesländer nach Berlin eingeladen. Auf die Idee war noch keiner ihrer Vorgänger gekommen. Im Laufe des Jahres soll ein weiteres Treffen dieser Art stattfinden. Zwar muss die Staatsministerin die Zuständigkeiten der gesetzlich getrennten Welten von Bund und Land respektieren. Aber sie kann versuchen, die Akteure zu vernetzen, einen Austausch über Struktur- und Finanzierungsfragen anstoßen, die sich ja landauf, landab in ähnlicher Ausprägung stellen. In Ausnahmefällen kann Monika Grütters Theatern bei der Renovierung helfen, mit Mitteln der Denkmalpflege. Die deutschen Stadttheater auf dem flachen Land sind schließlich sehr lebendige Denkmäler. Sie stehen nicht auf einem Sockel, sie kommen auf die Menschen zu.
Den ganzen Sommer über, bis 14. September, werden im Bergtheater Thale „Gräfin Mariza“, „Evita“, „Ein Sommernachtstraum“ und „Pippi auf den sieben Meeren“ geboten. Infos: www.harztheater.de
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