Magazin Sommerkultur 2014: Und über uns der Himmel
Wer sich hierzulande für Open-Air-Kulturevents entscheidet, riskiert zu frieren oder regennass zu werden. Dennoch erfreuen sich Freiluftfestivals großer Beliebtheit. Eine Reise vom Harz über die Ostsee bis nach Brandenburg.
Diese Aussicht ist schon die halbe Miete. Per Auto oder Seilbahn geht es hinauf zum Hexentanzplatz, ein kurzer Fußweg führt vom riesigen Parkplatz zum rustikalen Eingangstor des „Bergtheaters Thale“. Wer hier eintritt, erlebt einen Wow-Effekt. Denn unerwartet öffnet sich ein atemberaubendes Panorama: In der weiten Ebene liegen Ortschaften im Sonnenlicht, wie hingetupft zwischen die Äcker und Felder. Bei klarem Wetter soll man sogar bis zur Magdeburger Domspitze sehen können.
Ein Postkarten-Weitblick, wie von Bühnenbildnerhand im Vordergrund eingerahmt von sanften, saftig-grünen Hügelkuppen. Und davor die sandige Spielfläche einer Bühne, auf der hohe Bäume wachsen. Schwindelerregend steil fallen die hölzernen Bankreihen ab, so dass die Sicht auf Schauspieler und Naturkulisse von jedem der 1350 Plätze ideal ist.
Seit 1903 wird hier im Sommer Theater gespielt. Zu Beginn waren es dubiose völkische Stücke, in denen germanische Helden verherrlicht wurden. Erst in den zwanziger Jahren präsentierte sich das Programm weltoffener. Nach einem Rückfall ins dumpf Germanische ab 1933 wurde die Naturbühne bereits ab 1946 wieder genutzt, jetzt im Dienste der sozialistischen Volkserziehung. Heute dauert die Saison von Mai und September, gezeigt wird in fast 100 Vorstellungen alles, was gefällt, vom Kindertheater bis zum Musical.
Höhenangst sollten die Darsteller in Thale besser nicht haben
Neben zwei freien Gruppen und der Landesbühne Eisenach ist das Nordharzer Städtebundtheater der wichtigste Partner der Freilichtbühne. Einige der 170 Mitarbeiter des Hauses, die übers Jahr in Halberstadt und Quedlinburg die kulturelle Grundversorgung sichern, ziehen dann sogar für ein paar Wochen hier ein, in die sehr bescheidenen Baracken aus DDR-Zeiten.
Höhenangst sollten die Darsteller in Thale besser nicht haben, denn die Garderoben kleben wie Schwalbennester unterhalb der Spielfläche im Fels. Und auch so mancher Auftritt ist nur über abenteuerliche Metalltreppen möglich: Da gibt es die „Alm“ auf der rechten Bühnenseite, die wie eine steinerne Zunge ins Bild ragt, da sind die Natursteinbauten linkerhand, einer mittelalterlichen Bastion nachempfunden, mit Türmchen und Balkonen zwischen hohen Tannen.
Eine Neuinszenierung von William Shakespeare – wie für diesen magischen Ort geschriebenen – „Sommernachtstraum“ wird das Nordharzer Städtebundtheater hier am 14. Juni herausbringen, aber auch „Pippi auf den sieben Meeren“ zeigen, das Musical „Evita“ und den Operettenklassiker „Gräfin Mariza“, alles zu ländlich-sittlichen Eintrittspreisen von maximal 28,50 Euro.
Um diesen Aufführungsmarathon bewältigen zu können, wird Urlaub sogar im Schichtbetrieb gemacht: Erst haben die Schauspieler vier Wochen frei, während die Musiktheaterleute spielen, und dann umgekehrt.
Abrafaxe, Magie und große Gefühle an der Ostseeküste
Ein knallhartes Sommerprogramm muten sich auch die Künstler vom Theater Vorpommern zu: Weil sie aus Schwerin vom Wirtschaftsministerium Geld für eine mobile Bühne bekommen haben, tingeln sie nun an der Ostseeküste von Ferienort zu Ferienort. 1375 Plätze hat die neue Tribüne, die in den kommenden Wochen ständig auf- und abgebaut wird, um bei 41 Vorstellungen Touristen an der Stralsunder Promenade, am Greifswalder Museumshafen, in Heringsdorf oder Sellin mit Live-Unterhaltung zu beglücken. Sogar ein eigenes Logo haben sich die „Ostsee-Festspiele“ gegönnt. Eine schaumgeborene Schönheit ist da zu sehen, die durch jenen Feuerreifen springt, der sonst das Erkennungszeichen der Bühne ist.
„Unsere Leute brennen wirklich für das Projekt“, schwärmt Hans-Dieter Heuer, der Marketingchef des in Stralsund und Greifswald beheimateten Theaters. Zum einen, weil mit dem Comic-Stück „Die Abrafaxe und das Geheimnis der Zeitmaschine“ sowie dem Musical „Der Zauberer von Oz“ Stücke auf dem Spielplan stehen, die Darstellern wie Zuschauern gleichermaßen Spaß machen dürften. Zum anderen aber auch, weil die Präsenz der Künstler während der Ferienzeit vielleicht die nicht gerade kulturaffinen Landespolitiker davon überzeugt, weitere Sparmaßnahmen in der Theaterszene von Mecklenburg-Vorpommern zu stoppen.
Mit Infoständen in den Badeorten versuchen Hans-Dieter Heuer und sein Team bereits jetzt, die Ostsee-Festspiele flächendeckend bekannt zu machen. Mit einem Transportunternehmen Berlin Linien Bus wurde eine Kooperation eingefädelt, und auch in den so genannten „Stau-Tüten“, die vor der Klappbrücke in Wolgast an genervte Autofahrer verteilt werden, sind natürlich Flyer des Theaters zu finden. Verglichen mit den üblichen Musical-Preisen sind die Tickets mit maximal 28 Euro auch hier extrem familienfreundlich.
In Schwerin startet mit „Nabucco“ ein ehrgeiziger Verdi-Zyklus
Weiter als bis nach Ribnitz-Damgarten allerdings trauen sich die Vorpommern nicht – denn westlich von Rostock beginnt bereits das Herrschaftsgebiet der Konkurrenz: In den vergangenen 21 Jahren haben sich die Schweriner Schlossfestspiele ein treues Stammpublikum erarbeitet. Vor der prachtvollen Kulisse des mit goldenen Kuppeln bekrönten Märchenschlosses, das Mitte des 19. Jahrhunderts am Seeufer errichtet wurde, wird ganz große Oper geboten.
In diesem Sommer startet mit „Nabucco“ ein neuer, ehrgeiziger Verdi-Zyklus. Vom 27. Juni bis zum 3. August sind 23 Aufführungen des babylonischen Dramas mit dem berühmten Gefangenenchor angesetzt, dazu kommen noch die „Romeo und Julia“-Vorstellungen der Schauspieltruppe im Innenhof des Schweriner Doms.
Dabei ist es ja eigentlich verrückt, in unseren Breiten überhaupt Theater unter freiem Himmel anzubieten. Norddeutschland ist eben nicht Italien. Doch das Vorbild der Mutter aller Freiluftfestivals in der Arena di Verona ist für Intendanten wie Tourismusmanager einfach zu verlockend: Erhoffen sich die Kulturleute, mit ihren sommerlichen Aktivitäten neue Publikumsschichten für ihre Häuser zu gewinnen, schielen die Ferienverkäufer natürlich auf die Portemonnaies der auswärtigen Zuschauer. Wer Kultur liebt, verfügt häufig über ein gehobenes Einkommen, lässt also vielleicht auch Geld in der lokalen Gastronomie, lastet die Hotelbetten aus und gönnt sich zudem noch einen Einkaufsbummel.
Der leichtlebige Graf von Luxemburg erweckt in Neustrelitz zum Leben
Und die Leute strömen ja tatsächlich zu den Open-Air-Events, lassen sich auch von meteorologischen Unwägbarkeiten nicht abschrecken. Sinkt das Thermometer an dem Tag, für den man seine Tickets gekauft hat, mal wieder auf herbstliche Temperaturen, bleibt eben die festliche Garderobe im Schrank. Man stiefelt im Zwiebellook los, beschwert mit Decken, Regencapes, Windjacken und heißem Tee in der Thermoskanne.
Die Wetterfestigkeit der Freiluftfans verblüfft die Veranstalter immer wieder. Zittern bei der Zauberflöte, Bibbern bei Bizet, Rossini unterm Regenschirm – alles kein Problem. Und selbst wenn bei den „Festspielen im Schlossgarten“ gar kein Schloss zu sehen ist, wie in Neustrelitz, tut das der Stimmung keinen Abbruch. Im Zweiten Weltkrieg fiel der Herrschersitz in Trümmer, von der einstigen Pracht ist nur die elegante Parkanlage mit ihren Sandsteinskulpturen und dem antikisierenden Tempelchen geblieben – sowie eine klassizistische Schlosskirche, die nun im Hintergrund malerisch aufragt, während vorn auf den Brettern süße Melodien geschmettert werden.
Der oft geschmähten Kunstform der Operette nämlich hat sich das Landestheater seit 2001 im Sommer verschrieben. Zweimal wurde hier schon die berühmteste Tochter der Stadt zur Hauptfigur eines Stücks gemacht, die schöne Luise, die als preußische Königin die Herzen des Volkes eroberte. Diesmal steht ab 4. Juli aber ein anderer Adliger im Mittelpunkt: der leichtlebige Graf von Luxemburg, von Franz Lehar zu musikalischem Leben erweckt und garantiert ohne jeden modernistischen Regieschnickschnack auf die Bühne gebracht.
Magdeburger setzen aufs Musical. Und in Brandenburg?
230 Kilometer südwestlich, in der Landeshauptstadt vom Sachsen-Anhalt, hat sich das Magdeburger Theater aufs Musical verlegt. Seit 2008 ist der Domplatz Austragungsort des Spektakels, melodramatisch ging hier schon die „Titanic“ unter, „Evita“ sang „Don’t cry for me, Argentina“ und „Les Misérables“ starben auf den Barrikaden von Paris. Für 2014 nun ist in den bekannten, bluttriefenden Lettern die „Rocky Horror Show“ plakatiert, das Kultstück aus den Siebzigerjahren.
In Magdeburgs Nachbarstadt Dessau, wo das Anhaltische Theater nach der jüngsten Zuschusskürzung durch den SPD-Kulturminister Stephan Dorgerloh ums Überleben ringt, ist derzeit keinem zum Tanzen zumute. Da passt ein Drama wie Goethes „Iphigenie auf Tauris“ besser. Intendant André Bücker wählt für seine Inszenierung Bilder von strenger Klassizität, passend zum genius loci. Denn die Dessauer zeigen ihr Open-Air-Stück im Wörlitzer Gartenreich, just auf der Insel „Stein“, im griechischen Theater, das Fürst Franz 1794 mit der „Iphigenie“ einweihen ließ.
Beethovens Freiheitsoper im Stasi-Knast
Und in Brandenburg? Da ist wie gewohnt alles eine Nummer kleiner: Zum letzten Mal hat Siegfried Matthus die Leitung „Kammeroper Schloss Rheinsberg“ inne, die er 1991 gegründet hat und nun an seinen Sohn Frank vererbt.
Papageno und Papagena werden durchs historische Heckentheater tollen, zur Eröffnung am 28. Juni findet eine konzertante Aufführung von Matthus' „Judith“ vor den Kolonnaden statt. Wie immer wird auch im Kloster Neuzelle Oper geboten – diesmal Mozarts „Così fan tutte“.
Wirklich spektakulär ist das Projekt des Staatstheaters Cottbus: Im Hof des früheren Stasi-Gefängnisses, das heute von ehemaligen Insassen als Gedenkstätte betrieben wird, ist ab 28. Juni Beethovens Freiheitsoper „Fidelio“ zu erleben – als Chefsache natürlich: Intendant Martin Schüler inszeniert, Generalmusikdirektor Evan Christ dirigiert.
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