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Einer von Millionen. Der achtjährige Arne aus dem mecklenburgischen Pokrent liest den ersten Band der "Harry Potter"-Reihe (2000).
© picture-alliance / dpa / Jens Büttner

"Stein der Weisen": Harry Potter feiert 20. Geburtstag in Deutschland

Vor 20 Jahren erschien der erste Harry-Potter-Band auf Deutsch. Das  siebenteilige Epos ist dabei noch viel mehr als herrlicher Hokuspokus, Krimi und charmanter Bildungsroman.

Der Urknall soll sich bei einer abendlichen Zugfahrt im Juni 1990 ereignet haben. Eine kaum 25-jährige Frau, Uniabsolventin in Französisch und Altertumswissenschaften, zur Zeit arbeitslos, fährt von Manchester nach London und hat eine Eingebung. Sie stellt sich eine Art Zauberschule vor und unter den Schülern einen kleinen Zauberlehrling, der zunächst nicht weiß, woher er stammt. Aus ihm soll fünf Jahre später, auf der Suche nach seinen Eltern und dem Geheimnis seines Lebens, der Waisenknabe Harry Potter werden.

Weil die Geschichte auch jetzt, da der Hamburger Carlsen Verlag am 28. Juli den 20. Geburtstag des Beginns der deutschen „Harry Potter“-Ausgabe mit dem „Stein der Weisen“ (Harry Potter and the Philosopher’s Stone) feiert, noch immer wie ein Wunder klingt, kann man sie nicht oft genug erzählen. Denn niemand sonst als Joanne K. Rowling, die ihre Vornamen gerne auf die Initialen verkürzt, hat etwas Vergleichbares geschafft. In zwei Jahrzehnten sind weltweit eine halbe Milliarde Exemplare der sieben „Harry Potter“-Romane verkauft worden. Dazu die Verfilmungen fürs Kino, Theaterversionen, Hörbücher: J. K. Rowling ist (nach der Queen) zur vermögendsten Frau Großbritanniens geworden und zur erfolgreichsten Schriftstellerin der Literaturgeschichte.

Zu diesem wahren Märchen gehört wie selbstredend: Ihr 1995 abgeschlossener Debütband wurde erst mal von mehreren Verlagen abgelehnt. Auch vom Londoner Haus Bloomsbury, das sich 1996 auf den Rat der achtjährigen Tochter eines Lektors noch anders besann. Und so brachte Bloomsbury den Erstling der inzwischen in Edinburgh als alleinerziehende Mutter von der Sozialhilfe lebenden Autorin am 26. Juni 1997 mit einer Startauflage von 1000 Exemplaren heraus. Im September des nämlichen Jahres erwarb Carlsen die deutschsprachigen Rechte, bereits für alle sieben angekündigten Werke der „Potter“-Saga.

Magische Fantasie. Joanne K. Rowling im Jahr 2004.
Magische Fantasie. Joanne K. Rowling im Jahr 2004.
© picture-alliance/ dpa

Fast zeitgleich geschah allerdings ein erstes kommerzielles Wunder. Kurz nach Erscheinen von „Harry Potter and the Philosopher’s Stone“ bezahlte ein eher auf Schulbücher ausgerichteter amerikanischer Verlag namens Scholastic die verblüffende Summe von 100 000 Dollar für die US-Rechte. Plötzlich war die bis dato unbekannte junge Frau aus Edinburgh ein Star. Und Harry Potter wurde mit und ohne Anführungszeichen zum Welthit. Im Juli 2000 betrug die englische und amerikanische Startauflage von „Harry Potter und der Feuerkelch“ bereits knapp fünf Millionen, im Oktober bei der deutschen Übersetzung eine halbe Million. Verlagsmitarbeiter und Übersetzer durften unter Androhung immenser Vertragsstrafen über den Inhalt eines neuen „Potter“-Bandes keine Silbe vorab verraten, erste Druckfahnen wurden bewacht wie die britischen Kronjuwelen. Die Buchläden öffneten am Starttag eines neuen „Potter“-Bandes schon eine Minute nach Mitternacht und wurden von jungen Lesern mit Magierhüten gestürmt.

Das alles ist oft als Humbug und (geniales) Marketing bespottet worden. Doch die wirklich geniale Grundidee wurde nicht mehr belächelt. Indem Rowling ihren Zauberschüler im Internat Hogwarts über sieben Schuljahre hinweg älter werden ließ, wuchsen auch sämtliche Leser mit. Bis zum Finale „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“ im Jahr 2007 – sowie mit neuen Lesern darüber hinaus.

Will heißen: Das erfolgreichste Buchprojekt des 21. Jahrhunderts war auch der bisher wirkungsvollste Lichtschein in der Dämmerung der Gutenberg-Ära. Man kann beklagen, dass der Megaerfolg dieser einen Saga unendlich viele andere und bisweilen literarisch gar überlegene Bücher vom Markt verdrängt hat. Doch die aus dem vorigen Jahrhundert hinübergewachsene „Harry Potter“-Gemeinde verkörpert, kurz vor der Erfindung des Smartphones, die vorerst letzte Generation genuiner Buchleser. Bücher, sogar erfolgreiche Bücher gibt's natürlich auch in der jetzigen Hoch-Zeit des Digitalen. Aber die „Potter“-Welt, das gehört zu ihrem Zauber, verbindet noch fugenlos ein altes und das neue Zeitalter. Zu dieser, ja: kulturhistorischen Essenz gehört zugleich die seismographische, zeitgeistige Evidenz. Harrys Kampf gegen die Mächte des dunklen Lords Voldemort spiegelt in der scheinbar so fantasyhaften Mittelaltermagie auch das Anwachsen des modernen Terrors. Als im Juli 2005 der sechste Band auf Englisch weltweit erschien, handelte der Beginn just von Gewalttaten mitten in London, und realiter explodierten die Bomben im Londoner Bahnhof King’s Cross. An einem „Potter“-Schauplatz.

Das ganze siebenteilige Epos ist jenseits von herrlichem Hokuspokus, von Krimi und charmanten Bildungsroman auch – eine große Erzählung von Rassismus, Nationalismus und Demokratiebedrohung. Das bleibt, neben zahllosen metaphorischen Anspielungen auf moderne Phänomene wie Gentechnik oder, in neuester Lesart, auch künstliche Intelligenz.

Gleich den Märchen der Weltliteratur oder Romanen wie Coopers „Lederstrumpf“, Dickens’ „Oliver Twist“, gleich den Büchern von Jules Verne, Lewis Carroll, Tolkien oder auch Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ überspringt „Harry Potter“ die Grenzen von E- und U-Kultur, von Jugend- und Erwachsenenliteratur. J. K. Rowling, die keine grandiose Stilistin, aber eine ingeniöse Fabelfinderin (vulgo: Plotterin) ist, beweist eben darin ihre Kunst. Sie treibt die Welt an den Rand des Abgrunds, mit Sinn für das Böse und einer sentimentalischen, also menschlichen Sehnsucht nach dem Anderen. Ihr letzter Saga-Satz lautet darum: „Alles war gut.“ Das klingt nach „Es war einmal...“ Als ließe sich die Gegenwart nur in der Vergangenheit beschwören. Und verzaubern.

Peter von Becker

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