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Auf dem Thron. „Ein plötzlicher Todesfall“ ist zumindest nominell Joanne K. Rowlings erster Roman für Erwachsene nach der siebenbändigen Harry-Potter-Saga.
© picture alliance / dpa

Rowling-Roman "Ein plötzlicher Todesfall": Der gemeine Engländer

Joanne K. Rowling hat Harry Potter hinter sich gelassen. Jetzt versucht sie sich am großen Gesellschaftsroman in der britischen Provinz. Sein Titel: „Ein plötzlicher Todesfall“.

Viele hatten zumindest in Deutschland gedacht, das wird eine Kriminalgeschichte. Denn bei all dem riesengroßen Bohei um Joanne K. Rowlings ersten Roman „für Erwachsene“ war als einzig substantielle Information vorab nur der Titel des Buchs verraten worden. Im Englischen lautet der viel entspannter „The Casual Vacancy“ und meint eine unverhoffte Vakanz. Diese ist in J. K. Rowlings Roman durch das unerwartete und jähe Ableben eines Gemeinderatmitglieds der (erfundenen) englischen Kleinstadt Pagford entstanden.

„Ein plötzlicher Todesfall“, wie das Buch auf Deutsch überschrieben ist, da denkt man eher an eine Thrillerdramaturgie. So, als gehe es hier Schlag auf Schlag. Und tatsächlich gibt es die erste Leiche schon auf den ersten drei Seiten dieser dickleibigen Erzählung. Von einem Hirnschlag mit Anfang Vierzig hingerafft, stirbt der Bankangestellte und vierfache Familienvater Barry Fairbrother, dessen Namen, wie man alsbald erfährt, ein sprechender ist. Ein guter Mensch geht schnell dahin, und lässt eine Menge schlechtere zurück. Viele viel schlechtere. Auch im Gemeinderat von Pagford, wo Barrys Sitz nun frei geworden ist.

Doch Rowling erzählt, trotz ihrer Kapitel-Motti, die Paragraphen und Sentenzen eines britischen Juristen zum kommunalen Recht zitieren, keine politische Geschichte. Eher wie in einem russischen Roman des 19. Jahrhunderts treten im Laufe des 575-Seiten-Buchs unzählige miteinander verwandte, verschwippte, bekannte, befreundete oder verfeindete Figuren aus dem Kosmos der Kleinstadt auf den Plan – und drehen sich in wechselnder Weise um den an sich harmlosen Todesfall und seine familiären wie sozialen Folgen.

Keiner ist ein Mörder. Eine innere Blutung im Kopf des Toten. Schläge, Schlaganfälle und noch drei Tote folgen zwar noch. Auch ein paar kleinere Diebstähle, Hehlerei, Drogendelikte, eine Vergewaltigung sowie allerlei nicht direkt justiziable Infamien. Aber es geht nicht um deren Aufdeckung und Aufklärung. Nur um ihre breite, epische Darstellung. Ein Panoptikum als Panorama der englischen, allzumenschlichen Provinz.

Das freilich bedeutet schon einen krassen Kontrast zum monumentalen magischen Weltgemälde, das die sieben „Harry Potter“-Bände entfaltet haben, mit denen die jetzt 47-jährige J. K. zur globalen Berühmtheit und Milliardärin geworden ist. Mit ihrem dort bewiesenen Geschick für kriminalistische Intrigen und raffiniert verwobene Kompositionen hätte Rowling auch in Pagford aus dem „Plötzlichen Todesfall“ wohl unschwer einen richtigen Thriller machen können. Ihr Personal, das mindestens zur Hälfte allerlei Argwohn und Aversionen gegen den frühverstorbenen Barry Fairbrother hegt, hätte durchaus das Zeug gehabt, auch zum weniger natürlichen Todesfall.

Doppelmoral in der Kleinstadtidylle

Die plötzliche „Vacancy“ bezeichnet erst einmal nur eine Leerstelle. In Fairbrothers Familie und Bekanntenkreis, in der Gemeinde und ihrem Rat. Bald wird klar, dass es dank alter Geschichten (und Grundstücksverkäufe) Rivalitäten mit einem Nachbarort gibt, der sich mit Sozialwohnungen bis an die Grenzen des ursprünglich beschaulichen, von einer alten Abtei gekrönten Pagford ausgedehnt hat. Der Verstorbene hat sich auch für die gesellschaftlichen Grenzgänger eingesetzt, vor allem für eine in Pagford umstrittene Klinik für Drogenabhängige mit dem schönen Namen Bellchapel. Und für das in der Schule rebellische Mädchen Krystal, dessen alleinstehende (man kann nicht sagen: erziehende) Mutter heroinsüchtig ist und das sich in der familiären Verwahrlosung noch um einen dreijährigen Bruder kümmern muss.

Rowling setzt ihre kleine personenreiche Gemeinschaft in einen erst lauwarmen Wasserkessel, den sie allmählich so anheizt, das aus ihm in Gestalt der guten britischen Mittelschichtbürger irgendwann lauter entflammte, enthemmte Mitmenschteufelchen springen. Das sprudelt erzählerisch im Detail oft ganz farbig dahin – und verdampft doch auch schnell.

Man glaubt diese Welt der insgeheim ehrgeizig enttäuschten, habgierigen, ehefrustrierten, sexgeilen und/oder hilflos liebessehnsüchtigen Menschen aus den so beschaulichen süd- und mittelenglischen Grafschaften nur zu gut zu kennen. Und kennt sie tatsächlich auch: aus den doch viel besseren, spannungsvolleren Romanen einer Elizabeth George oder den Fernsehkrimis mit Inspector Barnaby. Immer verwandelt sich die vermeintliche Provinzidylle darin in eine alltäglich Hölle. Mit dem normalen Wahnsinn jener Briten, die zumindest in Dichtung und Filmen selbst im Banalen noch nahe am Spukhaften gründen.

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ Diesen berühmten Anfangssatz aus Tolstois „Anna Karenina“ mag auch Joanne K. Rowling im Sinn gehabt haben. Das Problem ist indes: Die vielen unglücklichen Familien in ihrem Epos ähneln sich gleichfalls. Fast immer leben sie eine Doppelmoral. Fast immer gibt es die üblichen, hier nur oft in die blutige Gewalttätigkeit getriebenen Konflikte zwischen Eltern und (pubertierenden) Kindern. Auch wenn neben Alkohol jetzt modernere Drogen im Spiel sind, auch wenn Computer verschoben oder Kondome, Handys und zeitgemäße Fuckworte benutzt werden: Was zum Abbild einer von aktuellen Formen und Formeln der Verwilderung beherrschten Welt werden soll, pinselt doch nur sprachärmer, bildschwächer nach, was an (nicht nur englischer) Sozialkritik und Gesellschaftspanoramen ein Charles Dickens long time ago schon erfunden, beschrieben, durchleuchtet hat. Dunkler und zugleich heller und schärfer.

Natürlich will Rowling zeigen, dass sie auch ganz von heute ist. Indische Einwanderer spielen hier mit (für die weiße Mehrheit „Pakis“), es gibt Twitter, Facebook, digitales Schulhofmobbing und als sich schnell abnutzende neue Variante des Kleinstadt-Gerüchts dienen Postings auf einer offenbar kinderleicht zu knackenden lokalen Website: mit Indiskretionen und Denunziationen über sich um den den vakanten Sitz im Gemeinderat neu bewerbende Pagforder, unterschrieben „Der Geist von Barry Fairbrother“.

Das gemahnt ein bisschen an die Spukwelt von „Harry Potter“, erzeugt freilich noch keine eigene Magie. Bei der Potter-Saga gab es jenseits der schieren Fantasy-Oberfläche auch immer einen ganz eigenen Subtext. Darin erzählte Rowling in ihrem vermeintlichen Kindermärchen auch von sehr erwachsenem, neu erwachendem Rassismus. Und Terrorismus. An einem solchen tieferen Unterstrom aber fehlt es im „Plötzlichen Todesfall“.

Am besten geraten der Autorin Milieuskizzen aus der sozialen Unterschicht, die sie wohl teilweise selber oder aus naher Übermittlung in ihrem früheren, ärmeren Leben erfahren hat. Unter die Haut geht die Schilderung etwa des Alltags der Sozialarbeiterin Kay Bawden und ihres Eindringens in die Sphäre des Mädchens Krystal in ihrer Widersprüchlichkeit zwischen Verwahrlosung, Rohheit und Zärtlichkeit. Da gibt es Passagen, die J. K. Rowling tatsächlich ins Literarische heben. Wenn dagegen die Röte des Himmels über Pagford eine reifere, vollbusige Frau und Mutter an die Farbe ihrer einst jungfräulichen Nippel gemahnt, dann kippt alle Kunst in den Kitsch. Mit einer bei sexuellen Anspielungen oft sonderbar (verinnerlichten? spekulativen?) männlichen Perspektive.

Auch der eher betuliche Geist von Agatha Christie, abzüglich des Whodunit, ist hier mitunter zu spüren, mit einem Schuss jener Voyeur-Szenen, die sich von „Shades of Grey“ bis zur „Casual Vacancy“ zumindest gut verkaufen. Bei Jung und Alt, in der Provinz, die hier alle Welt bedeuten soll.

J. K. Rowling: Ein plötzlicher Todesfall. Roman. Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol. Carlsen Verlag, Hamburg 2012. 576 Seiten, 24,90 €

Peter von Becker

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