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Entspannter Chef. Justin Doyle ohne Jackett inmitten seines Chors.
© Matthias Heyde

70 Jahre Rias Kammerchor: Händel und Wandel

70 Jahre Rias Kammerchor: ein Rückblick – und eine Begegnung mit dem britischen Chefdirigenten Justin Doyle.

Bei Justin Doyle dreht sich in diesen Wochen alles um Georg Friedrich Händel. Zusammen mit Robin Ticciati, dem DSO und seinen RIAS Kammerchor erarbeitete er Mitte Dezember eine szenische Aufführung des „Messiah“ in der Philharmonie, und auch beim Neujahrskonzert stehen jetzt wieder Werke des Komponisten auf dem Programm. „Ich habe eine Art Playlist zusammengestellt, wie man das von Streamingdiensten wie Spotify kennt“, sagt der 42-jährige Dirigent. Aber keine Hitparade ist dabei herausgekommen, sondern eine Entdeckungsreise: Denn es sind vor allem unbekanntere Stücke, die Doyle dem Publikum vorstellen will.

Weil Georg Friedrich Händel alle nur erdenklichen Stilebenen und Gefühlszustände beherrschte, zutiefst Trauriges und tänzerisch Heiteres, archaisch Altmodisches und pompös Festliches, ist die Dramaturgie des Abends von Kontrasten geprägt. Die Noten der 18 Nummern hat Doyle auf dem Fußboden in seinem Wohnzimmer ausgelegt und dann immer wieder gegeneinander verschoben, bis es ihm der Spannungsbogen stringent erschien. „Meine Frau musste sehr viel Geduld aufbringen“, sagt Justin Doyle und lächelt dazu auf Gentleman-Art.

Überhaupt ist er very british, einer dieser Insel-Intellektuellen mit Spaß an der blitzschnellen ironischen Volte, wie man das auch von Simon Rattle kennt. Auf die Frage, ob er den in Halle an der Saale geborenen Händel am liebsten nachträglich einbürgern und zum most famous british composer erklären würde, antwortet er: „Na ja, vielleicht hinter Felix Mendelssohn-Bartholdy.“

Doyle ist tief verwurzelt in der britischen Chortradition

Mögen die Briten nicht überreich mit eigenen Komponistengenies gesegnet sein, in Sachen Chorgesang macht ihnen so schnell keiner was vor. Tief verwurzelt in dieser Tradition ist auch der in Lancaster geborene Justin Doyle: Er war Chorknabe an der Westminster Cathedral in London, gehörte als Choral Scholar später zum King’s College in Cambridge, erhielt ein Conductor Fellowship der BBC Singers, leitete den Chor der Universität von Manchester sowie Festivals in Ryedale und Swaledale, war Chef des Manchester Chamber Choir und Musikdirektor an der St. Paul’s Church in Knightsbridge, London.

Neben den Gesangsensembles hat Doyle aber stets auch Orchester geleitet – was ihm bei seiner Berliner Position, die er seit Herbst 2016 innehat, zugutekommt. Wenn große Chorsinfonik aufgeführt wird, darf der Chorleiter normalerweise seine Sängerinnen und Sänger nur vorbereiten und muss die Leitung dann dem jeweiligen Chef des beteiligten Orchesters übergeben, der abends im Rampenlicht steht. Weil der 35-köpfige Rias Kammerchor allerdings aufgrund seiner Größe selten für diese Werke angefragt wird, ist er in der glücklichen Lage, 80 Prozent der Projekte selber anstoßen zu können. Chordirektor Bernhard Heß engagiert also Spezialensembles wie die Akademie für Alte Musik oder die Capella de la Torre, die Justin Doyle dann zusammen mit seinem Chor bei den Konzerten leitet.

Gezielte Kompositionsaufträge sollen eine Repertoirelücke schließen

Künstlerisch möchte er dabei die Linien weiterführen, die sich in der mittlerweile 70-jährigen Geschichte der Formation entwickelt haben. Da ist zum einen das romantische Repertoire, bei dem der Chor mit seinem warmen, homogenen und dabei äußerst transparenten Klang glänzen kann. Eine weitere Säule ist die zeitgenössische Musik. „In diesem Bereich wollen wir durch gezielte Kompositionsaufträge eine Repertoirelücke schließen, die zwischen den kurzen A-Cappella-Stücken und den großen chorsinfonischen Werken besteht“, erklärt Doyle. Beim Jubiläumskonzert im Oktober fungierte die Uraufführung von Roderick Williams als „programmatischer Anker“, wie es der Chefdirigent nennt. Weitere neue Werke sind bereits bei Lera Auerbach und Torsten Rasch bestellt.

Vom Publikum am meisten geliebt und gefeiert aber wird der Rias Kammerchor als Interpret barocker Musik. Dass der „Rundfunk im amerikanischen Sektor“ 1948 finanziell so klamm war, dass er sich nur die Gründung eines Kammerchores leisten konnte, erwies sich im Nachhinein als Glücksfall. Denn so entstand ein Profiensemble, das bald zu den Pionieren der historischen Aufführungspraxis wurde. Während die groß besetzten Chöre weiterhin einem Klangideal der Üppigkeit huldigten, arbeitete Uwe Gronostay ab 1972 daran, auch Chormusik zur „Klangrede“ zu machen, rhythmisch flexibel und interpretatorisch maximal vital. Spätere Chefs wie Marcus Creed und Hans-Christoph Rademann haben auf diesem Gebiet konsequent weitergearbeitet – und Justin Doyle damit eine ideale Ausgangsbasis verschafft, um nun eigene Akzente zu setzen. Zum Beispiel beim Neujahrskonzert mit seinem selbst kreierten Händel-Pasticcio.
Philharmonie, 1. Januar, 20 Uhr, weitere Infos unter www.rias-kammerchor.de

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