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Sinn für absurde Komik. Der englische Schriftsteller Ian McEwan, 68.
© Reuters

Neuer Roman von Ian McEwan: Hamlet im Mutterbauch

Ein Embryo mit Alkoholproblemen wird Zeuge der Affäre seiner Mutter - und ihrer Mordpläne. Mit dem Roman „Nussschale“ kehrt Großschriftsteller Ian McEwan zu der makabren Komik seines Frühwerks zurück.

Etwas ist faul, wenn Ungeborene bereits Alkoholprobleme haben: „Ich teile mir gern ein Glas Wein mit meiner Mutter… wie herrlich ein durch die Plazenta dekantierter Burgunder schmeckt.“ Das klingt merkwürdig und ist es auch. In Ian McEwans neuem Roman „Nussschale“ wird ein acht Monate alter Fötus, der alles mit seiner Mutter teilt, nicht nur den Wein, den sie in bedenklichen Mengen trinkt, zum Erzähler. Eng, aber gemütlich hat er sich eingerichtet im „Waschmaschinenlärm von Magen und Gedärm“. Mutterbauch hat Ohren, er belauscht die Gespräche da draußen, aber nicht alles erschließt sich ihm auf Anhieb. Freimütig gesteht er eine seiner Jugend geschuldete Wissenslücke: „Ich kenne mich mit Mord noch nicht gut aus.“

Bevor der 1948 geborene Ian McEwan zum britischen Großschriftsteller wurde, der gewichtige Themen behandelt und relevante Problemzonen vermisst, hat er Erzählungen geschrieben, die schon durch die ungewöhnlichen Erzählerfiguren und Erzählperspektiven eine schräge, oft makabre Komik gewannen. Zum Geist dieser schriftstellerischen Anfänge kehrt er in seinem neuesten Spätwerk zurück.

Tollheit mit Methode

„Nussschale“ ist eine Hamlet-Travestie und schon der Titel ein Zitat; eines unter vielen: „O Gott, ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären“, räsoniert der dänische Prinz in der Schlegel-Übersetzung. Das unermessliche Reich von Nussschalengröße ist bei McEwan der Uterus. Ist es schon Tollheit, hat es doch Methode.

Wie Hamlet befindet sich der namenlose Fötus in der Rolle des handlungsgelähmten Mitwissers eines hundsgemeinen Familienverbrechens. Sein Vater John soll gemordet werden – und der noch ungeborene Sohn kann nichts dagegen machen, fatal fötal. Die Mutter, die hier schlicht Trudy statt Gertrude heißt, hat wie in „Hamlet“ ein Verhältnis mit dem Bruder ihres Mannes – Claude heißt er in der Spur von Shakespeares Claudius. John und Claude sind ein Männer-Gegensatzpaar aus der Komödie: Der verehrungswürdige Vater ist ein erfolgloser Lyriker, der sich mit Herzblut für seine Kunst einsetzt und voller Idealismus einen Kleinverlag betreibt. Sein Bruder, der Usurpator, firmiert dagegen als Immobilienentwickler, ein grobgeschnitzter Kerl von dumpfer Geistesart.

Mord mit Smoothie

Seine Reden sind „fades, saftloses Gesülze“, meist über Autos, seine Sätze verkümmern wie „mutterlose Küken“ – so behauptet es jedenfalls Fötus, der naturgemäß Partei für seinen Erzeuger nimmt. Warum die Mutter Claude vorzieht? Offenbar wegen seiner explosiven Drei-Minuten-Liebeskünste, die sie regelmäßig in die „Todeswand“ der schönsten Orgasmen treiben. Auch davon hat der Kleine Schauerliches zu berichten.

Die Mordpläne haben einen finanziellen Hintergrund. Der Poet ist nämlich keineswegs arm, sondern Besitzer einer verwahrlosten Londoner Immobilie, die dank ihrer Lage acht Millionen wert ist und in der die Schwangere bereits lebt. Nachdem sie John kürzlich vor die Tür gesetzt hat, soll er nun vollständig aus dem Weg geräumt werden. Als Waffe wählen Trudy und Claude einen mit Frostschutzmittel versetzten Smoothie.

Der eigentliche Reiz des Romans ist allerdings nicht die etwas plump zusammengezimmerte, durch ihren Shakespeare-Bezug veredelte Handlung, sondern die originelle Erzählstimme. Wie der blinde Gantenbein in Max Frischs berühmtem Roman beschreibt Fötus die Außenwelt im Modus des „Ich stelle mir vor“. Etwa das Haus, in dem er mit der Mutter lebt: „All meine Quellen stimmen darin überein, dass es eine Bruchbude ist.“ Die Dachrinnen sind kaputt, was ihn zu einem wunderbar hyperbolischen Vergleich greifen lässt: „Bei heftigem Regen schütten die Regenrinnen wie verlässliche Banken reichlich Rendite aus.“ Zu beachten ist die poetische Rhythmisierung und die fast stabreimhafte Dichte der Alliterationen auch in der deutschen Übersetzung von Bernhard Robben.

Satire auf vielen Ebenen

Nabokovianische Rolls-Royce-Prosa und Shakespeares Blankverspathos vereinen sich hier zu einem Ton von schönster Altklugheit. Da kennt einer die Welt noch nicht, ergeht sich aber umso demonstrativer in Weltwissen: „Sie kennen sicher diese altmodischen Rummelkarussells“, redet Fötus die Leser an. In seiner Angst, von der Mutter zum Wohlgefallen des bösen Onkels abgeschoben und zur Adoption freigegeben zu werden, steigert er sich in Tiraden über die englische Unterschicht, bei der er nicht landen möchte. Soll das seine Zukunft sein – adoptiert und adipös, ein Kind mit früher Wampenbildung über der Camouflage-Hose, das an den tätowierten Waden seiner falschen Mutter aufschaut, aber nie eine Geschichte vorgelesen bekommt? Sein oder nicht sein. Oder so lieber nicht sein.

Aber, wichtigste Frage, warum ist der Kleine eigentlich so klug? Weil Trudy während ihrer Schwangerschaft ständig die Wissens-Podcasts der BBC hört. Fötus ist süchtig nach Radio, vor allem nach den Nachrichten, diesem „Born aller bösen Träume“, und wenn er nachts seine werdende Mutter tritt, dann verfolgt er eine Absicht. Sie soll wach werden und das Radio einschalten: „Grausam, ich weiß, aber am nächsten Morgen waren wir beide besser informiert.“

Das Außerordentliche dieser Erzählstimme, ihre Weltkenntnis wird also „realistisch“ motiviert, aber unter der wiederum absurden Voraussetzung, dass ein Ungeborener das Sprachverständnis und die Auffassungsgabe eines überdurchschnittlich intelligenten Erwachsenen besäße. Die Motivierung durch die überreichlich genossenen Radiobeiträge macht die Sache kein bisschen plausibler. Es handelt sich eher um die Parodie realistischer Erzählweisen, die meinen, alles „glaubhaft“ machen zu müssen. Und nebenbei auch um Satire in Richtung jener überambitionierten Eltern, die den Babybauch mit ausgewählten Musik- oder Sprach-CDs berieseln, um die Hirnentwicklung zu fördern.

Zeit aus den Fugen

Im Weiteren schert sich McEwan denn auch nicht um die Begrenzungen der pränatalen Erzählhaltung, sondern verleiht Fötus diesen extravaganten, prätentiösen Stil mit vielen exquisiten Beobachtungen und Reflexionen. Auch zu den aktuellen Weltproblemen, die einen Ungeborenen in seiner Hoffnung auf ein paar erfreuliche Dekaden stark irritieren müssen, lässt er ihn ausführlich Stellung nehmen: die Finanzmärkte, die Atomkriegsgefahr, die Erderwärmung, der Islam, die Flüchtlingskrise, die Genderdebatte... Die Zeit ist aus den Fugen.

„Nussschale“ ist „Hamlet“, auf Comedy-Format gebracht. Der Plot ist eher platt, man muss Spaß an der absurden Erzählsituation und der aberwitzigen Erzählstimme haben – oder man wird das Buch albern finden. In der Tat: Das Ernsteste wird hier komisch, die Pointen- und Sentenzendichte ist hoch. Da liegt im Kühlschrank ein Käse, „so alt wie das Böse“. Warum Gedichte? Hier ist die Antwort: „Gott sagte: Es werde Schmerz. Und es ward Lyrik. Irgendwann.“

Freud hat in seiner Theorie des primären Narzissmus von der Allmacht des kleinen Kindes gesprochen: „His Majesty, the Baby“. Darüber hinaus haben manche Schulen der Psychoanalyse viel von der pränatalen Herrlichkeit zu fabulieren gewusst. Ian McEwan überbietet all diese Theorien noch: Seine Majestät, der superkluge Fötus. Dass es mit der Geborgenheit in der Seinseinheit des Mutterleibes aber nicht so weit her ist, demonstriert sein frühgestresster Held ebenso überzeugend. Es hat schon seinen Grund, dass wir weinend auf die Welt kommen.

Ian McEwan: Nussschale. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich 2016. 277 S., 22 €.

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