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Maxi Obexer bei ihrer Lesung.
© Johannes Puch

Ingeborg-Bachmann-Preis 2017: Halluzinieren im Biomarkt

Wie viel Detailbeschreibungsbesessenheit darf's denn sein? Und wo liegt die Grenze zwischen Einfühlung und Kitsch? Impressionen vom dritten Tag des Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt.

In der Jury stimmt etwas nicht an diesem dritten Lesetag des Bachmann-Wettlesens. Am Tag zuvor hatte sie den ordentlichen Text von Jörg-Uwe Albig über die Liebesbeziehung eines Mannes zu einer Kirche hart verrissen – bis auf Meike Fessmann, die Albig eingeladen hatte. Selbst Madeleine-Verweise und der Name Gregor der Hauptfigur warf die Jury Albig als Blendwerk vor. Fessmann wunderte sich, setzte sich ein – und kartet am Samstag nach, als sie Klaus Kastberger nach dessen Lobeshymne auf Eckhart Nickels „Hysteria“ vorwirft, mit zwei Maß zu messen und hier die Detailbeschreibungsbesessenheit zu feiern, die er bei Albig moniert hatte. Das wirkt eingeschnappt, zumal Fessmann noch Moderator Christian Ankowitsch nach dessen obligater Diskussionszusammenfassung darauf hinweist, er solle nicht immer Heike sagen, das habe er jetzt fünfmal getan, sie heiße Meike.
Doch die Unstimmigkeiten gehen weiter, und dieses Mal muss man sich über Fessmann sehr wundern. Tatsächlich lobt sie den von ihr eingeladenen Text von Maxi Obexer dafür, dass dieser explizit keine Sprache habe. Dass seit 150 Jahren Sprachexperimente gang und gäbe seien, man hier aber das Gegenteil habe, so als würde Obexer ein enormer Kunstgriff gelungen sein.

Maxi Obexer schreibt über Europa Flüchtlingssommer

Das Problem ist: Obexer will in ihrem gut gemeinten Text über Europas Flüchtlingssommer primär Inhalte transportieren. Sie schreibt Sätze wie „Viele Jahre wurde besonders von Deutschland blockiert, was Spanien, Italien und Griechenland gefordert hatten: eine europäische Flüchtlingspolitik.“ Parallel dazu berichtet die aus Italien stammende Ich-Erzählerin von ihrem Coming-Out in Berlin, um ihre Geschichte mit einem Bad in der Ostsee zu beenden. Dabei wird sie von der Strömung weit herausgetragen: „Niemand würde am Strand sein, den mein Verschwinden etwas anging.“ Ist das jetzt Einfühlung? Wohl mehr: Kitsch. Erstaunlicherweise springt dieses Mal Kastberger Fessmann zur Seite. Nur gut, dass dieser misslungene Text als genau das vom Rest der Jury zurückgewiesen wird.
Trotzdem ist dieser Tag für Klagenfurter Verhältnisse kein schlechter. Das liegt vor allem an Eckhart Nickels guten Pop-, Dekadenz- und Biotext. Der beginnt mit schönen Himbeer-, Brombeer und Marktbeobachtungen, in einem leicht manierierten 19. Jahrhundert-Tonfall, auf dass man bitte sofort Christian Kracht umher trapsen hören möge, mehr noch als die von Kastberger und Fessmann erwähnten Stifter und Hofmannsthal, und mündet in halluzinatorische Attacken während der Besichtigung einer Bio-Kooperative.
Auch Gianna Molinaris Dokufiktion über einen Mann, der aus einem Flugzeug fiel, weiß zu gefallen. Als es am Ende von Urs Mannhart heißt, er könne schreiben, sei jedoch nah am Journalistischen, umkreist die Jury noch einmal einen ihrer wichtigsten Streitpunkte: Wie journalistisch darf ein literarischer Text sein? Wo hört die Journalisten-Prosa auf und fängt die Literatur an? Was darf Literatur? (Alles ja wohl!). Ob am Sonntag der genuine Schriftsteller John Wray den Bachmann-Preis gewinnt und Eckhart Nickel sowie Ferdinand Schmalz auf den Plätzen folgen? Bei den vielen Unstimmigkeiten dürfte manche unangenehme Überraschung drin sein.

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