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Joaquin Phoenix spielt in der Comic-Verfilmung „Joker“ von Todd Phillips einen Comedian, der unter psychischen Störungen leidet.
© Chris Pizzello/Invision/AP

Interview mit Joaquin Phoenix: „Gutes Schauspiel ist wie Jazz“

Oscar-Anwärter Joaquin Phoenix spricht über seinen Auftritt als Batman-Widersacher Joker, über strenge Diäten, den Tod des Bruders und seine Mutter.

Mr. Phoenix, man hatte bisher den Eindruck, dass Sie Comic-Book-Verfilmungen gar nicht mögen. Die Angebote, Hulk oder Doctor Strange, zu spielen, haben Sie abgelehnt. Warum haben Sie beim Batman-Widersacher „Joker“ zugesagt?
Mich hat es tatsächlich nie gereizt, bei den großen Marvel-Comic-Franchise-Movies mitzumischen. Da hätte ich gleich für mehrere Filme unterschreiben müssen, mich auf Jahre hinaus auf diese Rollen festlegen lassen. „Joker“ hingegen ist ein Film, der aus dem Muster der üblichen Comic-Bombast-Movies herausfällt, eigentlich ist er ja eine Charakter-Studie. Er ist außerdem eine Low-Budget-Produktion, bei der man uns alle Freiheiten ließ. Er zeigt, wie aus einem psychisch angeschlagenen jungen Mann namens Arthur Fleck der Joker wird. Diese Entwicklung – oder Deformation, wenn man das so bezeichnen will, – ist das Kernstück der Geschichte. Das darzustellen, hat mich fasziniert. Und es war von vornherein klar, dass es keinen weiteren „Joker“-Film mit mir geben wird.

Sie sind bekannt dafür, sich intensiv in Rollen einzuarbeiten. Wie haben Sie diesen extrem gestörten, narzisstischen Killer in den Griff bekommen?
Ich weiß gar nicht, ob ich das habe. Arthur ist eine schillernde Figur, die viele neurotische Facetten hat und unter furchtbaren Gemütsschwankungen leidet. Das hat mir bei den Dreharbeiten geholfen: Ich musste gar keinen stringenten Charakter entwickeln. Aber die Schauspielerei funktioniert für mich sowieso am besten, wenn ich ganz im Moment bin, alles, was auf mich einströmt, aufnehme und instinktiv darauf reagiere.

Der französische Regisseur François Truffaut hat Dreharbeiten mal mit einer Postkutschen-Fahrt verglichen: Zu Beginn freut man sich, dass es endlich los geht – gegen Ende hofft man nur noch, dass man auch tatsächlich ankommt.
Es ist wie beim Football oder Basketball. Da gibt es Spieler, die gehen mit vollem Elan zur Sache, andere hängen mehr tot als lebendig auf dem Spielfeld herum und warten sehnlichst auf den Abpfiff. Bei langen Dreharbeiten bin ich sowohl der eine als auch der andere. Das Schönste ist, wenn es einfach läuft – und ich weiß gar nicht genau, wieso. Ich erinnere mich an ein Basketball-Spiel, bei dem Michael Jordan über 60 Punkte gemacht hat. Nach seinem letzten Korb rannte er lachend zurück und zuckte mit den Achseln, als wollte er sagen: „Ich habe keine Ahnung, wie ich das geschafft habe!“ In diesen Flow will ich kommen.

Dazu gehört viel Selbstvertrauen.
Ja, aber das Wichtigste für mich ist, dass ich dem Regisseur absolut vertrauen kann. Nur so kann ich mich komplett fallen lassen. Todd Phillips ist so einer. Er versteht dieses Suchen nach dem richtigen Feeling. Man darf nicht vergessen, dass ja viel mehr gedreht wird, als schließlich im Film zu sehen ist. Allein für die relativ kurzen Sequenzen mit Robert De Niro als Talkshow-Host haben wir drei Tage gebraucht. Da geht auch mal was daneben. Todd gab mir die Sicherheit und den Ansporn, immer weiterzugehen.

Haben Sie keine Angst, manchmal zu weit zu gehen, den Zuschauer zu überfordern?
Um wirklich angstfrei spielen zu können, muss man sich von der Erwartungshaltung des Zuschauers völlig freimachen. Wenn ich vor der Kamera stehe, kommuniziere ich mit dem Regisseur und natürlich auch mit den anderen Schauspielern. Der Rest ist mir in dem Moment egal. Gute Schauspielerei ist Jazz – nicht Mathematik. Die Schwierigkeit besteht darin, die richtige Balance zu finden. Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich war das „Joker“-Drehbuch akribisch ausgearbeitet, dramaturgisch präzise und jeder Charakter darin minutiös festgelegt. Das war das Sprungbrett. Dann musste ich springen.

Konnten Sie dieses furchtbar irre Lachen, das Sie im Film haben, nach dem Ende der Dreharbeiten schnell wieder loswerden?
Das hat in der Tat gedauert. Jetzt lache ich wieder ganz unbeschwert, wie Sie hören. Die Dreharbeiten waren wirklich intensiv. Der Joker wurde in gewisser Weise mein Leben. Ich habe ihn gespielt, mit dem Regisseur darüber geredet, abends die neuen Texte für den nächsten Tag auswendig gelernt, etwas geschlafen. Am nächsten Morgen wieder ans Set. Ich habe mich während dieser Zeit mit niemandem getroffen, kaum telefoniert. Ich war auf einer strengen Diät, deshalb konnte ich mich nicht mal mit jemanden auf einen Drink oder zum Abendessen verabreden.

Als Joker haben Sie mit inneren Dämonen zu kämpfen, müssen Ängste und Traumata verdrängen. Färbt so etwas nicht ab?
Nicht wirklich. Ich bin ein fröhlicher und ausgeglichener Mensch. Allerdings habe ich oft das Gefühl, die Leute denken, ich sei voller Probleme und schrecklicher Erlebnisse, die mich ständig quälen. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass mein Bruder River vor 26 Jahren einen tragischen Tod gestorben ist, bei dem ich Zeuge war. Und dass mein telefonischer Hilferuf, den ich damals machte, um so schnell wie möglich einen Krankenwagen zu bekommen, tagelang in den Medien immer und immer wieder abgespielt wurde. Das alles hat mich natürlich geschockt. Mit der Zeit bin ich aber darüber hinweggekommen.

Sie sind in Puerto Rico geboren, als Sie vier waren, wandten sich Ihre Eltern von der Sekte ab, für die sie missionierten und wanderten nach Los Angeles aus. Hatten Sie eine glückliche Kindheit?
Auf jeden Fall. Wenn ich mir die Lebensgeschichten von Freunden vor Augen führe, kann ich sagen, dass ich verdammtes Glück hatte. Ich war mit meinen Eltern, meinen Geschwistern – natürlich auch mit meinem Bruder River – ein Herz und eine Seele. Meine Kindheit war unbeschwert. Ich meiner Familie war es harmonisch, es gab viel Liebe und Verständnis. Das hat mir ein gutes Fundament gegeben. Die Probleme, mit denen ich mich heute herumschlage, haben meist einen kosmischen Ursprung. Ich kann zum Beispiel immer noch nicht wirklich begreifen, wie ich in der materiellen Welt lebe und doch auch ein Teil der spirituellen Welt bin.

Das meiste davon klingt abgeklärt für einen Hollywoodstar …
… lassen wir den „Star“ jetzt mal weg. Ich bin vor allem Mensch – ein Suchender, der noch viele Fragen ans Leben hat. Aber ein paar Antworten habe ich schon gefunden. Früher habe ich, zum Beispiel, viel geraucht und gern Alkohol getrunken. Das mache ich schon lange nicht mehr. Für mich ist inzwischen wichtig, dass ich mit meinem Körper im Einklang lebe. Wenn ich den vernachlässige und mich zum Beispiel schlecht ernähre, hat das sehr schnell negative Auswirkungen auf meine Stimmung. Und es geht mir auch geistig schlecht. Im Gegensatz dazu fühle ich mich wohl, wenn ich vegan esse, lange Spaziergänge mache und genügend Schlaf bekomme. Ich lebe sehr bewusst und intensiv. Und das meist weitab von Hollywood.

Was bedeutet das?
Ich reise gern. Und ich verbringe viel Zeit mit meiner Familie. Ich habe immer noch ein enges Verhältnis zu meinen Geschwistern und meiner Mutter. Von ihr habe ich meinen unausrottbaren Optimismus. Meine Mom ist die größte Idealistin überhaupt. Sie müssen sich mal vorstellen: In meiner frühen Kindheit lebte unsere Familie oft an der Armutsgrenze. Aber ich habe das nie als Mangel oder gar Bedrohung empfunden. Die Freude, die in meiner Familie gelebt wurde, auch in die Welt zu tragen, ist mir heute noch ein großes Anliegen. Deshalb habe ich zusammen mit meiner Mutter im Jahr 2012 „The River Phoenix Center for Peacebuilding“ gegründet. Da gibt es das Programm „Restorative Justice“, in dem meine Mom sehr aktiv ist.

Seine Rolle als Albert Fleck könnte Phoenix seine vierte Oscar-Nominierung bringen.
Seine Rolle als Albert Fleck könnte Phoenix seine vierte Oscar-Nominierung bringen.
© Warner

Was genau wird dort gemacht?
Wir versuchen, Opfer und Täter zusammenzubringen. Meine Mutter hat zum Beispiel einen Mann aus Florida, der zu Hause überfallen wurde, dazu gebracht, sich mit dem Täter zu treffen. Das war zunächst schwierig, weil der Mann durch den Überfall so traumatisiert war, dass er sogar den Bundesstaat verlassen hat. Meine Mutter hat ihn überzeugt, dass es für seine seelische Heilung gut wäre, den Täter zu treffen. Was dann auch geschah. Da stellte sich heraus, dass der Täter ein 17-jähriger Teenager war, der keine Schulbildung hatte, kein Geld, keine Familie, keine Perspektive. Die beiden sind tatsächlich Freunde geworden. Der Mann hat sich bei Gericht dafür eingesetzt, dass der Täter früher aus dem Gefängnis entlassen wird. Ich bin ein großer Fan von Resozialisierung. Und ich halte das amerikanische Rechtssystem für total rückwärtsgewandt. Da gilt immer noch: Hart bestrafen und einsperren. Obwohl wir wissen, dass es nichts nützt. Sonst wären unsere Gefängnisse kaum so überfüllt. In den USA gibt es viel zu viel Gewalt. Und leider auch immer mehr Leute, die Gewalt schüren. Dagegen müssen wir etwas tun.

Sie fühlen sich verpflichtet.
Jeder von uns hat eine moralische Verpflichtung. Wenn die Gesellschaft moralisch verrottet, ist es umso wichtiger, dass wir ein Gegengewicht setzen, uns nicht durch Gewalt korrumpieren lassen. Auf jeden Fall müssen wir den Teufelskreis von Gewalt durchbrechen!

Ulrich Lössl

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