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Aggro war gestern. Paul Würdig, alias Sido, will jetzt Vorbild sein.
© Murat Aslan

Rap aus Berlin: Großer Bruder: Neues Album von Sido

Den Verrat am eigenen Talent hat man dem Berliner Rapper Sido oft vorgeworfen. Bisher arbeitete er dagegen mit einer Reihe von Ich-Alben an. Auf seinem fünften Album „30-11-80“ gibt er sich geläutert und bittet Helge Schneider zum Duett der Clowns.

Man würde zu gerne wissen, ob Sido klüger als seine Gefühle ist. Oder ob seine Gefühle stärker als seine Intelligenz sind. Das ist keine unwichtige Frage. Und die Antwort steht jetzt mal an. Denn von ihr hängt ab, wie ernst man Sido nehmen darf. Einen Mann, der von sich sagt: Ohne ihn sei deutscher Hip-Hop „nur ein Kinderspielplatz“, was dann doch klar für Letzteres spricht, nämlich dafür, dass er von dem Drang gesteuert ist, das Falsche zu sagen. Mag es auch sein, um das Richtige zu tun, also erst mal krass Aufmerksamkeit zu erregen. Helge Schneider würde „bombekrass“ sagen, aber dazu später.

Die Pose des Proleten wider besseres Wissen einzunehmen, ist vielleicht die größte Sünde, die ein Künstler begehen kann. Diesen Verrat am eigenen Talent hat man Sido oft vorgeworfen. Und der arbeitet dagegen mit einer nicht enden wollenden Reihe von Ich-Alben an. Das nun erschienene „30-11-80“ (Universal) ist wieder eins, es führt Sidos Geburtsdatum im Titel und soll von nichts anderem als Sido handeln. Glücklicherweise tut es das nicht. Denn was Sido als vermeintlicher Gangsta-Rapper, dann als „Straßenjunge“ der Welt an Authentizität zu geben hatte, ist verpufft. Stattdessen hat er sich zuletzt mit einem Song über ein Fotoalbum ins kollektive Gedächtnis gebrannt. Ein netter Pop-Hit, mit einem aufmunternd wippenden Groove und einer Kindermelodie.

Als interessanteste Phase eines Genres gilt, wenn Newcomer es an sich reißen. Sido war vor nun auch schon wieder bald zehn Jahren ein solch neues Gesicht, wobei er seines hinter einer Totenkopfmaske verbarg. Er zerrte den deutschen Hip- Hop, der bis dahin die Domäne reimender Abiturienten gewesen war, energisch Richtung Fäkaltank. So offen vulgär hatte sich „die Unterschicht“ bis dahin noch nicht zu Wort gemeldet, stolz natürlich auch auf die Abwehrreaktionen, die sie provozierte. Wer wollte in dem brodelnden Sud aus häuslicher Gewalt und Vernachlässigung, Spucke und Blut erkennen, dass mit dem damals 23-jährigen Erzieher aus dem Märkischen Viertel ein Erzähler des psychosozialen Realismus ins Rampenlicht trat.

"Arrogant, provokant bis auf's Blut" - das ist vorbei

Die Worte, die Sido fand, waren von überzeugender Schlichtheit. Die Sprache benutzend wie ein Alltags-, nicht wie ein Szeneding. Sidos Hass auf alle Sozialarbeiter-Utopien war 2004 das Alarmsignal, dessen schriller Dauerton längst erwartet worden war und entsprechend ernster genommen wurde, als es nötig gewesen wäre. Aber der Rapper war eben von Anfang an ein großartiger Geschichtenerfinder („Mein Block“), wenn er sich nicht gerade als „intelligentes Drogenopfer“ stilisierte. Sein erklärtes Vorbild: Zille, der Zeichner des Berliner Milljöhs.

Aber das ging unter in dem Radau, der die neuen Schmuddelkinder des Labels Aggro Berlin umgab. „Es war einmal“ rappt Sido jetzt über jene Zeit und will ein anderer Mensch geworden sein. „Arrogant, provokant, bis auf’s Blut / Voller Hass, voller Wut, ja so war ich mal.“ Mit Anfang 30 versteht er „das Gerede“ um „den alten Scheiß“ nicht länger. Als wäre es nur der alte Bockmist, der ihn verfolgt. Im Mai erst soll er einen Clubbetreiber in Berlin niedergeschlagen haben, mit einer Sektflasche, was Sido bestreitet. 2009 wurde Sido beim Fahren ohne Führerschein erwischt. Und im Oktober vergangenen Jahres wurde er handgreiflich gegenüber einem österreichischen Klatschreporter. „Wenn du so weiter machst, kriegst du wirklich in die Fresse von mir“, kündigte Sido an. Dann: Bang! Und: „Der Typ hat mich provoziert.“

Solche Aktionen werfen ein Schlaglicht auf die viel spannendere Phase, in der Sido als Genrefigur steckt. Ist Rappen wirklich geeignet, ein anständiger Mensch und klüger als sein Gefühlshaushalt zu werden? Es ist ja auch wirklich ärgerlich für einen wie Sido, es mit einer so konventionellen, verspießerten Gesellschaft zu tun zu haben, die immer nur den Rüpel in ihm sehen will. So geht es vielen Underdogs der Kultur. Sie fühlen sich „verhaftet“ vom Stumpfsinn, den sie selbst mitkultiviert haben.

Auseinandersetzung mit "falschen" Vorbildern

Sidos Ausweg wären mehr Songs von „So wie du“-Format. In dieser melancholisch geratenen Auseinandersetzung mit „falschen“ Vorbildern ist der Berliner tatsächlich Wesentlichem auf der Spur. „iPhone geklaut und dann verkauft wie sein Bruder“, ruft Sido. „Kein Bock mehr auf die Klasse und die Lehrer wie sein Bruder / Er ist eher auf der Straße, da kennt jeder seinen Bruder / Deswegen geht er los zu einem Schalter wie sein Bruder / Und im Hosenbund die Walther wie sein Bruder.“ Die Moral: Wenn jemand sein will wie du, stehst du in der Pflicht. Ist das jetzt archaisch? Oder klug?

Beides. Und das kann nicht jeder. Selbst wenn Sido Kleingangster- und Huren-Klischees aufgreift, stülpt er sie in etwas anderes um. Zu den Glanzstücken von Sidos fünftem Studioalbum zählt deshalb „Enrico“, eine Art Polka-Hop. Mit dem wild wirbelnden Song über einen Sinti-Straßenmusiker aus Marzahn, der trotz seines die Zuversicht nicht verliert, versucht sich Sido, dessen Mutter Sinteza ist, musikalisch an einer neuen Gangart. An Miss Platnums wuchtigen Balkan-Soul reicht er nicht heran. Doch er hat abermals einen klaren Blick für die sozialen Spannungen und die fiebrigen Konflikte, die sich aus ihnen ergeben.

Kann man dasselbe über seine Kooperation mit Helge Schneider sagen? Da haben sich zwei Clowns gesucht und gefunden. Ihr Dialog feiert die Arbeitslosigkeit des Künstlers („Alle gehen arbeiten, nur ich nicht“). Das ist weniger verkrampft als es hätte sein können, ein ulkiger Spaß. Mit „Einer dieser Steine“ will er das große positive Gefühl beschwören. Und Marius Müller-Westernhagen hat er für eine gewisse Knorrigkeit engagiert.

Das ist auch ein großer Name. Doch leider kann Sido die notorische Ärmlichkeit seines Sounds zu selten wettmachen. Er hat seit seinem letzten Album vor vier Jahren geheiratet und ist zum zweiten Mal Vater geworden. Er hat sich einen Vollbart stehen lassen, mit dem er gemütlicher aussieht. Aber man möchte ihm nicht durchgehen lassen, dass er, der Geschichtenerzähler, sich nun gar nicht mehr empört über Schicksale, die ihn nichts angehen.

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