Agnès Varda zum 90. Geburtstag: Grande Dame des Autorenfilms
Die Frau, die schaut: Zu ihrem 90. macht sich die belgische Regisseurin Agnès Varda selbst das schönste Geschenk, den Dokumentarfilm „Augenblicke“.
Die Tochter eines Bergarbeiters. Die Belegschaft einer Salzfabrik. Die Ehefrauen von Dockarbeitern in Le Havre. Sie alle werden von Agnès Varda in dem Dokumentarfilm „Augenblicke: Gesichter einer Reise“ verewigt. „Jedes Gesicht“, sagt Varda, die an diesem Mittwoch ihren 90. Geburtstag feiert, „hat eine Geschichte.“ Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass Varda sich ihren vielleicht schönsten Film bis gegen Ende einer an Höhepunkten reichen Karriere aufgehoben hat. „Augenblicke: Gesichter einer Reise“, der einen Tag nach ihrem Geburtstag in die Kinos kommt, ist auch das Resümee eines bewegten Lebens – und dabei doch fest in der Gegenwart verankert. Vardas Kino hat sich schon immer jeder Form der Nostalgie widersetzt.
Im Februar erhielt sie den Oscar für ihr Lebenswerk, gleichzeitig war „Augenblicke“ als bester Dokumentarfilm nominiert. Die Doppelauszeichnung wäre eine schöne Pointe unter das Lebenswerk der einzigen Regisseurin der Nouvelle Vague gewesen. Dass sie ihn nicht gewonnen hat, ist wohl auch der Politik der Academy geschuldet. Dafür stahl die älteste Oscar-Preisträgerin mit ihrem Blumen-Kimono auf dem roten Teppich allen die Show.
In „Augenblicke: Gesichter einer Reise“ begibt sich Varda gemeinsam mit ihrem Koregisseur, dem Streetart-Künstler JR, auf einen Roadtrip, um jenes Frankreich zu finden, das Didier Eribon in seinen Erinnerungen „Rückkehr nach Reims“ von der Politik vergessen wähnt. Die beiden fahren in JRs mobilem Fotolabor über die Dörfer, sie sprechen Menschen auf der Straße oder auf dem Feld an, um ihre Porträts aufzunehmen und die grobkörnigen Prints an Häuserwände und Scheunen zu tapezieren. Das Werk lebt von den Anekdoten der Gesprächspartner wie von der Dynamik zwischen den Filmemachern: zwei Exzentriker, wie sie im Buche stehen.
„Augenblicke“ hat auch etwas von einem Generationenporträt
Dabei outet sich der 33-jährige Künstler als Fan von Vardas Film „Mauerbilder“, in dem die Regisseurin die Graffiti von afroamerikanischen und Latino-Jugendlichen in Los Angeles zeigt. Die Kids erzählen ihre Geschichten, die Regisseurin hört voller Anteilnahme zu – wie eigentlich all ihren Protagonisten, ob in Dokumentar- oder Spielfilmen. Varda wiederum liebt die Wandbilder von JR, der berühmt wurde mit großflächigen Porträts der Bewohner in den Pariser Banlieues, die dort Fassaden und Hauswände zieren. Ephemere Kunst, aber auch eine Hommage an die Heldinnen und Helden des Alltags. „Women are Heroes“ heißt ein Film von ihm. Und in dem Fotoband „Wrinkles of the City“ von 2015 dokumentiert er das Leben im postsozialistischen Kuba. 45 Jahre zuvor hatte Varda die Insel besucht und Fidel Castro als „hochgewachsenen Utopisten mit steinernen Flügeln“ inszeniert.
„Augenblicke“ hat auch etwas von einem Generationenporträt. Mehrfach beklagt sich Varda über JRs Unsitte, nie die Sonnenbrille abzunehmen. Und wenn sie sich mal wieder vor der Kamera kabbeln, watschelt die kleine Agnès Varda mit ihrem Gehstock und ihrer aubergine-weißen Twin-Tone-Frisur („Ich mag Farben!“) wie ein altersweiser Yoda einfach über den Acker davon.
Letztlich weiß sie das Männervolk immer zu handhaben. 1961 drehte sie mit dem notorischen Sonnenbrillenträger Jean-Luc Godard und Anna Karina die Stummfilm-Vignette „Les Fiancés du Pont Mac Donald“. Untertitel: Vorsicht vor Sonnenbrillen.
Vardas Aversion ist mehr als eine Schrulle. Der Blick in die Augen der Menschen gehört sozusagen zu den Grundlagen ihrer Arbeit, kam sie doch über die Fotografie zum Kino. Henri Cartier-Bresson, dessen Grab sie mit JR besucht, war ein Freund und Vorbild. „Ich dachte anfangs, Bilder plus Worte seien gleich Kino“, sagte sie einmal. „Später erkannte ich meinen Irrtum.“ 1958, drei Jahre nach ihrem Regiedebüt „La Pointe Courte“, lernt Varda Jacques Demy („Die Regenschirme von Cherbourg“) kennen, ihren späteren Ehemann. Er führt sie in die Männerzirkel der Nouvelle Vague ein. Im Gegensatz zu Godard, Truffaut und Rivette ist Varda nicht cinephil, sie geht kaum ins Kino. Lieber schöpft sie aus dem Leben. Mit „Mittwoch zwischen 5 und 7“, einem dahingejazzten Stück Cinéma vérité über die Sängerin Cléo, die sich zwei Stunden durch Paris treiben lässt, während sie auf das Ergebnis einer Krebs-Untersuchung wartet, wird sie über Nacht bekannt.
In Frankreich ist Varda längst eine feministische Ikone
Eine Frauenfigur wie Cléo hatte das französische Kino noch nicht gesehen: ein Spielball männlicher Autoritäten, gleichzeitig von keinem Mann zu fassen. In Vardas leuchtendem Farbfilm „Das Glück aus dem Blickwinkel des Mannes“ (1965), wohl auch eine Antwort auf die zuckrigen Pastelltöne der „Regenschirme von Cherbourg“, beschreibt Varda eine lieblose Ehe, die mit dem Suizid der Hausfrau endet. Kritikerinnen warfen ihr vor, ein rückständiges Frauenbild fortzuschreiben, übersahen dabei aber, mit welcher Empathie sie die patriarchalen Strukturen bloßstellt.
Nach einem Dokumentarfilm über die Black Panther radikalisieren sich Vardas feministische Positionen, doch ihre Filme sind stets mehr als Traktate. Weibliche Subjektivität feiern sie in allen Facetten: mit Sandrine Bonnaire als jugendlicher Ausreißerin in „Vogelfrei“ (1985), die einem Freiheitsgefühl folgt, für das die Gesellschaft noch kein entsprechendes Lebensmodell kennt; mit Jane Birkin als alleinerziehender Mutter in „Die Zeit mit Julien“ (1987), die sich in den 14-jährigen Mitschüler (Vargas Sohn Mathieu) ihrer Tochter verliebt (Birkins eigene Tochter Charlotte Gainsbourg). Oder im Protestsong-Musical „Die eine singt, die andere nicht“ (1977), dem ersten Spielfilm ihrer Produktionsfirma Ciné Tamaris, über die Freundschaft zweier Frauen, die gegen das restriktive französische Abtreibungsrecht kämpfen.
In gewisser Weise schloss sich also ein Kreis, als Agnès Varda jetzt in Cannes als eine von 82 Frauen die Stufen zum Festivalpalais hinaufschritt, um Gleichberechtigung in der Branche zu fordern. In Frankreich ist sie längst eine feministische Ikone, das alterslose It-Girl der Frauenbewegung. Und in Cannes bleibt Varda vorerst eine von zwei Regisseurinnen, die je eine Palme gewann – 2015 für ihr Lebenswerk. Die andere ist Jane Campion, 1993 mit Gold für „Das Piano“.
Godard lässt sie vor verschlossener Tür stehen
„Augenblicke: Gesichter einer Reise“ wirkt streckenweise wie ein Lebensfazit. Die agile, hellwache Agnès Varda nimmt Abschied von Freunden und Weggefährten; nur Godard lässt sie vor verschlossener Tür stehen. „Du bist ein Mistkerl, aber ich mag dich trotzdem“, sagt sie unter Tränen.
Im Grunde hat dieses Memoiren-Projekt schon vor zehn Jahren mit dem bezaubernden „Die Strände von Agnès“ begonnen. Damals schlüpfte Varda in eine Rolle, die sie in „Augenblicke“ auf ihre unnachahmliche Art wieder aufnimmt, „die Rolle der kleinen alten Dame, freundlich, rund und gesprächig, die aus ihrem Leben erzählt. Aber eigentlich sind es die Geschichten der Anderen, die mich interessieren“.
Das Filmemachen ist für Agnès Varda ein Spiel. Ihr Kino existiert in dem Aggregatzustand, in dem sich der Rohstoff Leben plötzlich in wahrhafte Kunst verwandelt.
„Augenblicke: Gesichter einer Reise“ startet ab Donnerstag in den Kinos.