zum Hauptinhalt
Farben der Passion. Das Laienspiel wird alle zehn Jahre in Oberammergau aufgeführt. Zuletzt beherrschten starke Konstraste das Bild. Das Volk trägt Blau, der Klerus Riesenhüte. 2020 wird es schlichter.
© Passionsspiele Oberammergau 2020

Passionsspiele Oberammergau 2020: Gottes Bühnenbildner

Wie man für eine 2000 Jahre alte Geschichte eine zeitgemäße Ästhetik schafft: Der Oberammergauer Stefan Hageneier stattet die weltbekannten Passionsspiele aus.

Das graue Kreuz dominiert den Bühnenraum. Erst liegt es, später wird es aufgestellt. „Wir errichten einen Gottesstaat“, ulkt die angehende Bühnenbildnerin. An diesem Nachmittag hat der wortwörtlich Modellcharakter.

Im nach Holz und Leim riechenden Bühnenbildtrakt der Kunsthochschule Berlin-Weißensee hocken acht Studierende und ihr Professor in einem Seminarraum beieinander. Vor sich auf den Tisch haben sie Miniaturbühnen gestellt. Die einen sind angehende Regisseurinnen und Regisseure von der Musikhochschule Hanns Eisler, die anderen studieren Bühnen- und Kostümbild bei Stefan Hageneier.

Sie diskutieren ihre paarweise erarbeiteten Entwürfe für Benjamin Brittens Kammeroper „The Rape of Lucretia“, die als Gemeinschaftsproduktion aufgeführt wird. Von der Lichtwirkung der Kostümfarbe bis zur Herstellung des Werbeposters sind reichlich Details zu klären. Der Bühnennachwuchs ist engagiert bei der Sache. Inklusive selber bauen, nähen und löten in den Werkstätten, die sich auf dem weitläufigen Gelände verteilen.

Kreuze sind seine Kernkompetenz

Das Kreuz sei ein starkes Symbol, kommentiert der Professor den Entwurf. Er muss es wissen, Kreuze sind seine Kernkompetenz. Stefan Hageneier ist Oberammergauer, 1972 im schönen Bayernland geboren. Eine Herkunft, die Programm ist.

Nicht nur, weil der gelernte Holzbildhauer aus einer Familie von Herrgottsschnitzern stammt. Dieses Jahr stattet der Bühnen- und Kostümbildner, der seit 2011 an der Kunsthochschule lehrt, bereits zum dritten Mal die in aller Welt berühmten Passionsspiele in Oberammergau aus. Seit 1634 werden sie alle zehn Jahre aufgeführt.

Der Ausstatter. Stefan Hageneier vor der Kunsthochschule Weißensee.
Der Ausstatter. Stefan Hageneier vor der Kunsthochschule Weißensee.
© Mike Wolff

Ab dem 16. Mai ist es wieder so weit. Dann pilgert eine halbe Million Menschen den Sommer über ins Passionstheater, um das in gut 100 Vorstellungen dargebotene Spiel vom Leben, Leiden und Sterben Jesu Christi zu sehen. Hageneier obliegt die heikle Aufgabe für die 2000 Jahre alte Bibelgeschichte immer wieder eine neue Ästhetik zu setzen. Jenseits der abgenudelten Sandalenfilm-Ikonografie, die jeder im Kopf hat. Sie muss traditionell genug sein, sodass die Laienspieler sich mit ihr identifizieren können. Und zugleich ein Hingucker für die weltweite Vermarktung.

„Nebel ist natürlich hübsch“, berät der Professor gerade die Studierenden, „aber setzt ihn so ein, dass er der Erzählung nützt.“ Nebel nur um des Schauwerts willen ist ja nur feuchte Luft. Mit einem 1000-Euro-Budget simulieren die Nachwuchs-Theatermacher das Einrichten der Oper und setzen dafür symbolträchtig hölzerne Gedankenräume, hohe Fadensäulen und stählerne Haspeln in die Bühnenmitte. Als Rahmen für das Schauspiel, das dadurch idealerweise Form und Stil bekommt.

Schauspiel und Oper verlangen technisch durchdachte Entwürfe

Ein paar Wochen nach dem Unterrichtsbesuch sitzt Stefan Hageneier in seinem mit eigenen Fotoarbeiten dekorierten Weißenseer Büro. Er pendelt zwischen Berlin, München, wo er mit seiner Familie wohnt und zehn Jahre lang Ausstattungsleiter am Bayerischen Staatsschauspiel war, und Oberammergau. „Theater ist ein Zirkusleben, da ist es fast schon egal, wo man wohnt.“

Das Berufsbild ändere sich seit zehn Jahren deutlich, erzählt Hageneier. Es gelte die Studierenden fit für einen Theaterapparat zu machen, der jährlich nicht mehr zehn, sondern 20 Produktionen umfasse. „Schauspiel und Oper erwarten inzwischen technisch durchdachte Entwürfe.“ Und weil so viel produziert werde, bedürfe es professioneller Abläufe, um beispielsweise die Herstellung mehrerer Bühnenbilder zu verzahnen.

...und seine Entwürfe. Gewänder des Volkes, der städtischen Oberklasse von Jerusalem.
...und seine Entwürfe. Gewänder des Volkes, der städtischen Oberklasse von Jerusalem.
© Andreas Stückl/Passionsspiele Oberammergau

Da können sie es in Oberammergau mit ihrem Laienspiel, an dem sich die Hälfte des 5000-Seelen-Dorfes beteiligt, dann doch etwas ruhiger angehen lassen. Meint man. Tatsächlich arbeitet Stefan Hageneier seit anderthalb Jahren im Atelier an den neuen Entwürfen. Und seine 50 Schneiderinnen, Tischler, Bühnenmalerinnen, Bildhauer, Requisiteure und sonstige Gewerke umfassende Ausstattungsabteilung werkelt ebenfalls schon seit Monaten auf Hochtouren.

2500 Kostüme wollen angefertigt sein. Außerdem zahlreiche überdimensionierte Engelsschwingen. Zwölf alttestamentliche Szenen – die Lebenden Bilder – werden neu konzipiert und gebaut. Und auch die 45 Meter breite Freiluftbühne von 1928 hat Hageneier diesmal nicht nur, wie vor zehn Jahren, mit blauer Farbe konturiert, sondern sogar umgebaut.

Rundbögen raus, eckige Tordurchbrüche und korinthische Säulen rein, auf dass der Eindruck einer vielfältig begehbaren Tempelanlage mit Tiefenwirkung entstehe, die nebenbei noch Technik wie die neue Lautsprecheranlage versteckt.

Erstmals sind die Hauptdarsteller mikrofoniert

Jesus, Maria, Judas, Petrus und Pontius Pilatus werden bei den 42. Passionsspielen erstmals mikrofoniert sein. Eine Nachricht, die Puristen erschaudern und das Publikum auf den hinteren Rängen der 4400-Plätze-Bühne aufatmen lässt. Die Oberammergauer sind zwar bühnenerprobt, aber ausgebildete Stimmen haben sie nicht. Folglich wurde munter vorn an der Rampe deklamiert. „Durch den Bühnenumbau und die Verstärkung gibt es nun mehr Raum fürs Schauspiel“, glaubt Hageneier, den Spielleiter Christian Stückl im Jahr 2000 mit in sein Team der behutsamen Modernisierung des Traditionsstücks geholt hat.

Selbst mitgespielt hat Hageneier, der sagt, dass er ohne die Passion nie Bühnenbildner geworden wäre, schon vorher. Erstmals 1980, da war er acht Jahre alt.

Von 2010 sind noch die intensiven Farbkontraste der Inszenierung in lebhafter Erinnerung. Das Blau der Volksszenen, das Beige der Kaftane von Jesus und den Jüngern. Das Orange des Phärisäerornats, deren Riesenhüte und die grelle Expressivität der Lebenden Bilder.

Die Welt hat sich verändert, diesmal wird der Look dystopischer

Stefan Hageneier nickt. Das seien in Europa ja auch noch paradiesische Zeiten gewesen, sagt er. Und seine Ausstattung war der Versuch, die Passionsgeschichte in eine poetische Bildsprache zu tauchen. Tatsächlich standen die Themen Flüchtlinge, Klima und Populismus 2010 nicht auf der Agenda. „Inzwischen ist die Welt eine andere geworden, deswegen fällt die Bildsprache 2020 realistischer, dystopischer aus.“

Modell des Passionstheaters. Neuerdings hellgrau verputzt und zur Tempelanlage umgebaut. Davor gespannt ist ein Abendmahlszelt.
Modell des Passionstheaters. Neuerdings hellgrau verputzt und zur Tempelanlage umgebaut. Davor gespannt ist ein Abendmahlszelt.
© Gabriela Neeb/Passionsspiele Oberammergau

Hellgrau ist der dominierende Ton seiner betont monochromen, mit indischen Blockprintmustern in gedeckten Tönen arbeitenden Kostümierung der Spielszenen. „Es soll eine historische Darstellung mit zeitgenössischer Anmutung sein“, lautet der Anspruch. Die Leute sollen die Geschichte im Hier und Jetzt empfinden, sich aber gleichzeitig vorstellen, dass es im Jerusalem des Jahres 33 so ausgesehen haben könnte.

Wobei die alttestamentlichen „Andachtsbilder“ wieder Farbakzente setzen, aber düsterere als vor zehn Jahren. Mit ihnen will Hageneier erstmals eine durchgehende Geschichte erzählen, die von der Vertreibung, Versklavung und Flucht der Israeliten handelt.

Und Jerusalem, in das Christus trotz der jüngsten Eingabe der Tierschutzorganisation Peta, ihn in Oberammergau besser auf einem E-Scooter fahren zu lassen, wie eh und je auf einem Esel einzieht?

Das habe er diesmal als religiöses und machtpolitisches Zentrum konzipiert, das von einer dekadenten urbanen Oberschicht bewohnt wird. „Dahinein kommt Jesus, der Antiheld, samt seinen Jüngern, die arme Leute aus der Provinz sind, um Zeichen zu setzen und die Religion zu erneuern.“

Armut ist schwierig darzustellen

Wie deren Kaftane aussehen sollen, darüber brütet der Kostümbildner noch. „Armut ist schwierig darzustellen.“ Zerrissene Kleidung und humpelnde Darsteller, wie sie ein Sandalenfilm auffahren würde, gehören nicht zu seinen Mitteln. Er arbeitet subtiler.

Das haben ihn seine künstlerischen Mentoren, Bühnenbildner Jürgen Rose und Theatermacher Robert Wilson, gelehrt. Mit gerade mal 19 Jahren macht ihn erst der eine, dann der andere vom Fleck weg zu seinem Assistenten. Sechs Jahre hat Hageneier in Robert Wilsons Watermill Center in New York gearbeitet und mehrere Projekte als sein Co-Designer realisiert. Ein Studium brauchte es da nicht.

2000 holt er Robert Wilson nach Oberammergau, wo er mit ihm die Installation „14 Stations“ realisiert. Die war den seit dem 19. Jahrhundert an Passionsspieltouristen aus aller Welt gewöhnten Dörflern dann doch zu viel der Weltläufigkeit. „Die Oberammergauer haben es gehasst“, lacht Hageneier.

Auch dieses Engelskostüm spricht vom reduzierten Farbspektrum. Hageneiers Reaktion auf die seit 2010 nicht zum Besseren veränderte Weltlage.
Auch dieses Engelskostüm spricht vom reduzierten Farbspektrum. Hageneiers Reaktion auf die seit 2010 nicht zum Besseren veränderte Weltlage.
© Andreas Stückl/Passionsspiele Oberammergau

Ebenso wie Christian Stückl, der im Hauptberuf das Münchner Volkstheater leitet, steht auch Hageneier, der von der Berliner Schaubühne bis zum Wiener Burgtheater überall gearbeitet hat, bei den Traditionalisten unter Verdacht. Dem nämlich, das Passionsspiel zu einer Theateraufführung zu professionalisieren. Fast hätte ein Volksbegehren seinen Bühnenumbau torpediert.

Und am Freitag müsse er bei der nächsten Chorprobe den Sängerinnen und Sängern noch mal erklären, warum er sie diesmal in einfache bäuerliche Kleidung des Jahres 1634 steckt und sich die Sänger Bärte stehen lassen müssen. Das sei manchmal schon nervenzerfetzend, seufzt er.

[Die Passionsspiele finden vom 16. Mai bis 4. Oktober in Oberammergau statt. Informationen: passionsspiele-oberammergau.de]

Und doch hält er die Passion für ein ungemein wertvolles Gut, ja ein Phänomen. Eine Riesenmaschine, die sich schon in früheren Jahrhunderten professionelle Anregung holte, und doch eine Herzens- und keine Kommerzunternehmung. Getragen und eben in jeder Kleinigkeit heiß umstritten von der Bevölkerung. „Das empfindet man bei jeder Aufführung.“ Als Gottesdienst will der Kostümbildner es nicht ansehen, als Weihespiel, dem theatrale Methoden nicht schaden, aber unbedingt.

Bloß kein Wunderheiler im weißen Gewand

Und wie hält es der Ausstatter des Herrn selbst mit der Religion? Stefan Hageneier grübelt. Er ist Oberammergauer, also ist er Katholik. „Meine Tochter ist begeisterte Christin.“ Interessant. Und was ist er?

Da sei mit den Jahren und den Diskussionen um das Passionsspiel, auf den Israel-Reisen der Darsteller und bei den Debatten mit jüdischen und christlichen Theologen viel in Gang gekommen. „Ich hinterfrage Jesus, aber ich schätze seine Lehre mehr und mehr.“ Womöglich fällt dessen Ausstattung auch deswegen genauso schlicht wie die seiner Jünger aus. Der aus der christlichen Ikonografie bekannte Erlöser als Wunderheiler im weißen Gewand, der wohnt in Oberammergau nicht mehr.

Zur Startseite