Theatererinnerungen von Joachim Meyerhoff: Gott sei Dank, es passt!
Irre gut: der Extremschauspieler Joachim Meyerhoff setzt mit "Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" seinen autobiografischen Romanzyklus fort. Diesmal geht es um seine Zeit an der Münchner Schauspielschule - und bei seinen Großeltern.
Auf einer Schauspielschule geht es um kontrollierte Enthemmung. Was an jedem anderen Ort peinlich, anstößig oder bestenfalls verhaltensauffällig wäre, das ist auf einer Bühne völlig normal. Jedenfalls, solange es der Kunst dient. So lautet die Lektion, die ein angehender Schauspieler zu lernen hat.
„Wir wollen eine Maschine bauen“, verkündet die Schauspiellehrerin, „und das geht so: Der Erste legt sich in die Mitte und macht eine Bewegung. Immer und immer wieder, zum Beispiel winkelt er das Bein an und streckt es wieder aus. So wie der Kolben eines Motors. Dann legt sich der nächste dazu.“ Also formieren Schauspielschüler und Schauspielschülerinnen sich zur Mensch-Maschine, wippen, wälzen und winden sich im Takt, stoßen metallische Geräusche aus. Disch, bahh, uff, drrrrrrr, pling.
„Eine ungeheure Kraft war in dieser Apparatur, minutenlang stampfte, keuchte und fauchte dieser Motor“, schreibt Joachim Meyerhoff. Verschmelzungsfantasien gehen in Erfüllung. Jedenfalls für einige Momente. Joachim liegt neben seiner Mitschülerin Maria, deren braun gebrannter Bauch im Sekundentakt auf ihn zuwogt. Und das runde Weiche, das gegen seinen Rücken stößt, ist das vielleicht „der üppige Busen von Agnes aus Hannover“? Aus dem Exerzitium wird eine erotisch aufgeladene Ekstase. Joachim streckt seine Zunge aus, sie wird lang und länger, wieder und wieder rast Marias glitschiger Nabel heran, und wieder und wieder gleitet seine Zungenspitze hinein „in diese kleine salzige Höhle“.
Körper entknoten sich
Sich zu entknoten, herauszukommen aus dem Körperknäuel, das fühlt sich für Meyerhoff am Ende der Unterrichtsstunde eigenartig an. Weil er plötzlich wieder „ein Einzelteil“ ist. Dabei war er genau das während seiner dreieinhalb Jahre an der Otto-Falckenberg-Schule. Ein Einzelteil, böser gesagt: ein Fremdkörper. Schon das Vorspiel bei der Aufnahmeprüfung, bei der er statt drei nur eine Rolle, den „Danton“, vorbereitet hat, empfindet er als Desaster. Textaussetzer, Beschämung. Genommen wird er trotzdem. Bei einer grotesken Übung muss er ein Nilpferd spielen, das Fontane-Zeilen spricht. „Satz für Satz verdampfte in der Hitze des Scheinwerferlichts.“
Meyerhoff ist von der Sehnsucht danach erfüllt, „infiziert zu werden“. Aber die Lehrer sagen, er stünde „auf der Kippe“, kurz vor dem Rauswurf. Sein Wunsch läuft auf ein Paradox hinaus, er möchte auf der Bühne stehen und nicht gesehen werden. „Ich wollte inkognito ich sein.“ Als der Zweimetermann für eine Benefizauktion in ein Frauenkleid schlüpft und dafür frenetisch bejubelt wird, empfindet er zum ersten Mal Bühnenglück. Seine Ausbilder konstatieren, dass Enthusiasmus sein einziges Talent ist.
Das wirkt grotesk, denn heute gehört Joachim Meyerhoff, der zum Burgschauspieler aufstieg, zu den besten Bühnendarstellern im deutschsprachigen Raum. Doch ein Enthusiast ist er geblieben. Als Erzähler sprudelt er geradezu über vor Einfällen, mit größter dramaturgischer Finesse setzt er Pointen und baut Spannungsbögen. Sein Roman „Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ ist bereits der dritte Band, der aus seinem sechsteiligen Zyklus „Alle Toten fliegen hoch“ hervorgeht, bei dem er auf der Bühne sein Leben erzählt hat. Der herausragende erste Band „Alle Toten fliegen hoch. Amerika“ handelte von Meyerhoffs Jahr als Austauschschüler in Wyoming und dem Unfalltod des Bruders, „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ vom Groß- und Stark(?)werden auf dem Gelände einer Jugendpsychiatrie, deren Direktor Meyerhoffs Vater war.
Wohnung als Museum
Mit „Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ – der Titel zitiert Goethes „Werther“ – folgt jetzt ein Entwicklungs- und Künstlerroman. Und ein Familienroman. Als Helden fungieren Inge und Hermann, Meyerhoffs Großeltern, bei denen er während seines Studiums wohnt. Ihr unweit des Nymphenburger Schlosses gelegenes Haus ist eine von zwei sanft vergreisenden Sonderlingen bewohnte Erinnerungshöhle, ein stets blitzblank geputztes Museum der Nachkriegswelt. Kein Gegenstand, weder ein Möbel noch ein Untersetzer, hat je seinen Platz gewechselt, und wenn die Großmutter nach dem Putzen einen Sessel in die vier Abdrücke zurückwuchtet, die er auf dem Teppich hinterlassen hat, seufzt sie erleichtert: „Ach Gott sei es gedankt, es passt!“
Inge Birkmann ist eine berühmte Schauspielerin, sie hat noch zum Ensemble von Otto Falckenberg an den Münchner Kammerspielen gehört. Man kennt ihr Gesicht aus Folgen von „Derrick“ und „Der Alte“. Ihren Enkel nennt sie „Lieberling“, aus kleinsten Alltagssituationen macht sie große dramatische Auftritte. Als Joachim für eine Rollenübung Schillers Mortimer übernehmen soll, raunt sie: „Den Mortimer! Mein Gott, Junge, den Mortimer“, spricht und spielt ihm dessen Verse vor und die von Maria Stuart gleich mit.
Hermann Krings gilt als Koryphäe, jahrzehntelang hat er als Philosophieprofessor gearbeitet. Täglich sitzt er in seinem Arbeitszimmer, eingekeilt zwischen Bücherwänden. Hunderte von Bänden, Tausende von Seiten hat er mit Kommentaren versehen. „Es waren für mich Hieroglyphen einer unsagbar fremden Gedankenwelt“, schreibt Meyerhoff. Unermüdlich arbeitet der Großvater weiter an Fachlexika. „Heute“, sagt er einmal, „haben wir endlich nach drei Jahren das M abgeschlossen.“ Worüber er geschrieben hat? „Über Moral und Mäeutik.“ Meyerhoff, das ist unverkennbar, liebt seine Großeltern. Allerdings sind sie auch harte Trinker, deren Tagesablauf einem Staffellauf vom Champagner zum Frühstück über Wein zum Mittagessen zum Cointreau als Betthupferl folgt. Reichlich angeheitert entschweben die Alten dann per Treppenlift ins Obergeschoss. Der Enkel bleibt völlig besoffen zurück.
Mit Derrick in der Sauna
An die sprachliche Virtuosität und literarische Genauigkeit der autobiografischen Romanzyklen von Peter Kurzeck („Das alte Jahrhundert“) oder Karl Ove Knausgård („Min kamp“) kommt Meyerhoff nicht ganz heran. Dafür sind seine Texte witziger. Einige der am Esstisch oder auf der Couch der Großeltern spielenden Szenen könnten von Loriot stammen. Andere, etwa ein Kassenhauskampf am Zoo, hätte man mit Diether Krebs verfilmen können. Doch weil sie mit Melancholie durchtränkt ist, erschöpft sich die Geschichte nicht im Anekdotenfeuerwerk. Der stets am Rande des Scheiterns balancierende Held ist vom Tod des Bruders traumatisiert, seither umgibt ihn eine „vernebelnde Zeitwolke“.
Eines Tages sitzt Horst Tappert, Kollege und Freund der Großmutter, auf dem Sofa. Meyerhoff geht mit dem Fernsehstar in die Keller-Sauna und fühlt sich in der Hitze, „als würde mich Derrick in der Hölle verhören“. Tappert, das kam nach seinem Tod heraus, war Mitglied der Waffen-SS. Trug er noch die Blutgruppentätowierung auf seinem Oberarm? Hatte er sie wegätzen lassen? Die wichtigen Fragen beantwortet Meyerhoff leider nicht.
Joachim Meyerhoff: "Ach diesJe Lücke, diese entsetzliche Lücke." Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 352 Seiten, 21,99 €.
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