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Ton, Wort und Schrift. Im Januar stellte sich das Magazin "Music & Literature" auch in Berlin vor. Der Cellist Anssi Karttunen spielte im Felleshus der Nordischen Botschaften unter anderem "Sept papillons" der finnischen Komponistin Kajia Saariaho, der im aktuellen Heft ein 150-seitiges Dossier gewidmet ist.
© Katja Zimmermann, courtesy of Vagant/Music & Lizerature

Die Zeitschrift "Music & Literature": Glanzlichter, Irrlichter

Die Zeitschrift "Music & Literature" versucht, einen neuen gattungs- und kulturübergreifenden Kanon zu definieren - jenseits von universitärem Spezialistentum und journalistischer Beliebigkeit.

In ihren ureigenen Kreisen brauchen sie alle keine Empfehlung mehr. Niemand, der sich mit Neuer Musik beschäftigt, muss noch auf Kajia Saariaho gestoßen werden: Die irrlichternden, hochemotionalen Stücke der finnischen Komponistin erklingen in Konzertsälen auf der ganzen Welt. Jeder mit skandinavischer Literatur halbwegs vertraute Leser ist schon einmal über die obsessiven Finsternisse des norwegischen Dichters und Erzählers Stig Sæterbakken gestolpert – und deren Fortsetzung in der Wirklichkeit: 2012 nahm er sich mit 46 Jahren das Leben. Und seit Susan Sontag die Prosa der Chinesin Can Xue für nobelpreiswürdig erklärte, gelten die Kafka, Borges und Calvino verpflichteten, auf den ersten Blick denkbar unchinesischen Werke der Pekinger Autorin als ein Fall für den Olymp.

Denjenigen, der mit dem Werk aller drei Künstler gleichermaßen vertraut ist, muss man aber erst noch finden. Denn obwohl Namen heute schneller denn je um den Globus gehen, schmort jede Szene nach wie vor im eigenen Saft, und die Schwerkraft von National- und Regionalkulturen ist oft unüberwindlich hoch. Auf jeden gelingenden Export kommt, erst recht, wo teure Übersetzungen nötig sind, ein missglückter. Und der einerseits übersättigte, andererseits schrumpfende Markt ist auf Subventionen oder Selbstausbeutung angewiesen: Internationalität und Provinzialität gehen längst wieder Hand in Hand. Weder von Stig Sæterbakken noch von Can Xue existieren Bücher in deutscher Übersetzung.

Die englischsprachige Halbjahreszeitschrift „Music & Literature“ (Einzelheft 20 USD) schlägt, zusammen mit ihrer Website www.musicandliterature.org zum nunmehr fünften Mal einen Bogen, der nach einem gattungs- und kulturübergreifenden Kanon sucht, den weder akademische Publikationen noch Zeitungen definieren – und schon gar nicht die amerikanischen. Aber auch im europäischen Kontext ist die Mischung von Gründlichkeit und Lesbarkeit rar. Allein ein 150-seitiges Dossier der aktuellen Ausgabe gilt mit Originaltexten, Interviews und Essays Saariaho. Noch einmal so viel Platz teilen sich Sæterbakken und Can Xue, die in den USA keineswegs übersehen wird, wie man unter web.mit.edu/ccw/can-xue/index.shtml nachlesen kann. Sie alle genießen aber nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit. Sowohl Taylor Davis-Van Atta, der von Montpelier im US-Staat Vermont aus die Geschicke des Blattes im Buchformat steuert, wie Daniel Medin, der an der American University von Paris lehrt, wollen das ändern – auch mit Hilfe von Veranstaltungen rund um die eigenen Themen.

Die Mischung machte es schon in früheren Nummern. Wo sonst hätte die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector, deren Bewusstseinslabyrinthe jüngst auch in Deutschland eine Renaissance erfuhren, auf das Ehepaar Maya Homburger und Barry Guy treffen können: er ein Kontrabass spielender Virtuose des freien Jazz, sie eine Barockviolonistin mit einem Faible für Zeitgenössisches? Wo wäre der australische Metafiktionszauberer Gerald Murnane dem slowakischen Komponisten Vladmir Godár und dessen Frau Iva Bittová begegnet? Und hat das Heft über den ungarischen Schriftsteller László Krasznahorkai, seinen Regisseursfreund Béla Tarr und den Berliner Maler Max Neumann nicht zu Krasznahorkais spätem Triumph in den USA beigetragen?

Die Geschichte von „Music & Literature“, an der auch die porträtierten Künstler selbst engagiert mitschreiben, ist noch zu kurz, als dass man darüber urteilen könnte, welches Pantheon hier entsteht, ja mit welcher stillen Autorität es einmal künftigen Lesern und Gelehrten, wie es die gar nicht so stille Hoffnung der Herausgeber ist, entgegentritt. Die Resonanzräume sind schon zwischen Deutschland, Frankreich und England so unterschiedlich, dass das, was hier Gehör findet, dort womöglich verschmäht wird. Oder auch: dass das, was im einen Land eine überfällige Entdeckung wäre, beim Nachbarn bereits den Ruch des allzu Arrivierten hat. In diesem Sinn ist es Dilemma und Chance zugleich, eine Zeitschrift für europäische und amerikanische Leser zu machen. Einen Wunsch zumindest könnte man beiden erfüllen. Ein wenig von der Liebe, die ins Kuratieren fließt, sollte auch dem Gestalterischen gelten: Der Satzspiegel könnte noch etwas Durchlüftung vertragen.

Gregor Dotzauer

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