zum Hauptinhalt
Formbewusst. Balbina, 31, trägt auf der Bühne ausgefallene Designer-Kostüme, die ihren Shows etwas Theatralisches geben. x
© Nico Wöhrle

Porträt der Sängerin Balbina: Gib mir ein Ü

Die Wortspielerin: Balbina singt mit melancholischer Stimme eigenwillige Texte. Jetzt erscheint ihr Album "Über das Grübeln". Ein Treffen.

Letzten September ergab plötzlich alles Sinn. Die Jahre der Selbstzweifel, des Nichtaufgebens und Weiterkämpfens. Da war Balbina für einen Auftritt auf dem Reeperbahn-Festival nach Hamburg eingeladen und stand irgendwann Herbert Grönemeyer gegenüber. Der hatte zuvor offenbar ihre Musik gehört. Ob er das Konzert gezielt besucht hatte oder eher Zufall im Spiel war, lässt sich nicht genau rekonstruieren. Jedenfalls sagte er im Laufe dieses kurzen Gesprächs einen Satz, der sich Balbina einbrennen sollte: „Es ist okay, anders zu sein.“ Herbert der Große erteilte der Newcomerin die Absolution.

Es ist nicht so, dass sie unbedingt darauf gewartet hätte. Oder dass es ihr nicht vorher schon bewusst gewesen war. Aber die sechs Worte aus dem Mund eines gestandenen Kollegen zu hören und dadurch plötzlich so etwas wie Anerkennung zu erfahren, war offenbar eine kleine Genugtuung. Zumindest klingt es so, während Balbina im Restaurant „Ø“ am Mehringdamm sitzt und ihre Geschichte erzählt. Auch hier hebt sich die 31-Jährige ab, fällt auf. An den Nachbartischen bestellen geschäftige Anzugmänner und grazile Stilettofrauen Mittagessen, während sich die Sängerin mit den kunstvoll zusammengesteckten Haaren und dieser kastigen Bluse-Rock-Kombination an einem Glas Wasser festhält.

Balbina brachte vor vier Jahren ihr erstes Album unter dem Namen Bina heraus

„Über das Grübeln“ heißt Balbinas Platte, die diesen Freitag erscheint, und wenn der halbwegs aufgeschlossene deutsche Pop-Musik-Konsument etwas Geschmack besitzt, wird er dieses Album zumindest interessiert zur Kenntnis nehmen. Das liegt schon am Cover. Es zeigt Balbina im Profil, mit einer Frisur wie ein Hut, dazu das erhobene Haupt und der entschlossene Blick. Daneben der Titel in weißen Lettern. Das Ü in Grübeln ist verrutscht, als wäre es gestolpert und hingefallen. Zudem ist es mit drei statt mit zwei Punkten geschrieben. Man ahnt: Hier steckt kein Pop-Einerlei drin. Tatsächlich irritiert Balbinas Musik – im positiven Sinne. Ihrer Eigenwilligkeit zu widerstehen fällt schwer. Schon allein diese tiefe Stimme, die ihren Texten stets eine gewisse Melancholie verleiht. Und überhaupt: die Texte. Kein übliches Pop-Trallala, kein erwartbare Liebesprosa. Stattdessen sorgsam geschliffene Zeilen und Wortspielereien. Wie in „Goldfisch“, der aktuellen Single, in der es um die eigene Vergesslichkeit geht und es an einer Stelle heißt: „Das meiste, was was ausmacht, sieb ich aus wie feinen Sand am Strand und dann / hör ich dem Meer zu, ich hör nicht mehr zu.“ Im Video sieht man Balbina am Ende selbstvergessen auf dem Boden sitzen. Sie trägt ein langes blaues Kleid, dessen Stoff Falten wie Wellen wirft, während die Musikerin darauf mit Papierbooten spielt. Die Geigen, die kurz zuvor im Refrain noch zu hören waren, sind verstummt, die Akkorde kommen nur noch vom Klavier. Balbina scheint in diesem Moment ganz bei sich zu sein.

Vor vier Jahren war das noch anders. Da nannte sich die Künstlerin Bina, hatte nach dem Vordiplom ihr BWL-Studium an der FU beendet und veröffentlichte in Eigenregie ihre erste, selbstbenannte Platte. Aus heutiger Sicht wirkt die teils sehr elektrolastige Musik unter den fantasievollen Strophen oft eklektisch und unentschlossen. Trotzdem hört man das Talent. Aufgenommen hat Balbina das Album mit dem Hip-Hop-Produzenten Bistram, der ihr vorgefertigte Beats zur Verfügung stellte, weil die Sängerin kein Instrument beherrscht. Die beiden kennen sich seit Ende der 90er Jahre. Sie trafen sich bei Royal Bunker, einer Kreuzberger Open-Mic-Bühne für aufstrebende Rapper, neurotische Selbstdarsteller und notorische Ego-Strotzer.

Schreiben ist ihre Rettung

Formbewusst. Balbina, 31, trägt auf der Bühne ausgefallene Designer-Kostüme, die ihren Shows etwas Theatralisches geben. x
Formbewusst. Balbina, 31, trägt auf der Bühne ausgefallene Designer-Kostüme, die ihren Shows etwas Theatralisches geben. x
© Nico Wöhrle

Dass es ein schüchternes Mädchen ausgerechnet dorthin verschlägt, scheint wenig plausibel. Und doch ist der Bunker ein Ort, an dem sich die Künstlerin zum ersten Mal wohlfühlt. „Ich wurde da schwesterlich aufgenommen“, sagt Balbina rückblickend. Die coolen Jungs interessieren sich für ihre Texte. Sie erkennen die Einzigartigkeit ihrer Stimme, die sich später unter anderem Prinz Pi für ein paar Refrains zunutze macht. Plötzlich wird sie wahrgenommen, ernst genommen: Balbina Monika Jagielska, Kind polnischer Einwanderer, in Warschau geboren und im Alter von drei Jahren mit der Familie in Berlin gelandet. Es sollte ein besseres Leben beginnen, doch es kam anders.

Balbina ist vier, als sich die Eltern trennen. Mutter und Tochter ziehen von Moabit nach Neukölln. Vor der Tür der neuen Erdgeschosswohnung: knallharter Alltag. In der Schule lernt Balbina, zu Boden zu schauen. Für die Mitschüler ist sie ein Sonderling. Das Mädchen mit der großen Brille. Die Introvertierte, die Unsichere. Die Außenseiterin wird zum Opfer auserkoren, weil sich ihre Feinsinnigkeit den Klassenkameraden nicht erschließt. Die abschätzigen Blicke und Kommentare schmerzen oft mehr als die Schläge, die es manchmal gibt. Der tägliche Weg von der Wohnung zur Schule und zurück wird zum Spießrutenlauf. Daheim zieht sich Balbina zurück in ihre eigene Welt. Sucht Trost bei Erich Kästner, der in kleinen Analogien große Zusammenhänge erklärt. Entdeckt Hermann Hesse. Plötzlich findet sie Antworten auf die Fragen des Lebens. Und sie fängt an, Texte zu verfassen.

Die Deutschlehrerin stellte Balbina im Unterricht bloß

Das Schreiben ist ihre Rettung. Aus den eigenen Gedanken und Alltagsbeobachtungen werden Geschichten, die der Teenager für sich behält. Zu präsent ist noch die Erinnerung an einen Vorfall im Deutsch-Unterricht. Da sollte Balbina einen Aufsatz zu Max Frischs „Homo Faber“ abliefern. Die Lehrerin ist vom Ergebnis zunächst begeistert, lässt den Text vor der Klasse vortragen. Doch die Mitschüler lachen Balbina aus. Frau Schröder, die Deutschlehrerin, revidiert daraufhin ihr Urteil. Statt der ursprünglichen Eins gibt es eine Zwei minus. Das prägt.

Schwer zu sagen, was Frau Schröder heute von ihrer ehemaligen Schülerin hielte. Die Musik-Kritik ist zumindest begeistert, als im Sommer letzten Jahres Balbinas „Nichtstun“-EP erscheint. Ihre Texte verfasst die Sängerin nun nicht mehr zu vorgefertigten Beats. Mit dem Musiker Nicolas Rebscher komponiert sie einen kunstvollen Klangteppich, auf dem sich ihre Fantasien und Tagträumereien voll entfalten können. Und wenn sie die auf einer Bühne vorträgt – in extravaganten, von der Designerin Susann Bosslau entworfenen Kostümen – erinnert das Ganze eher an eine Theaterperformance als an ein Pop-Konzert. Herbert Grönemeyer hat in Balbina jedenfalls den Solitär erkannt, der sie ist. Ab Mai darf sie im Vorprogramm seiner Stadiontour auftreten.

„Über das Grübeln“ erscheint am 24.4. auf Four Music. Konzert zusammen mit Olson: Yaam, 21.4., 19 Uhr

Zur Startseite