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Pöbeln für den Klick. Der Youtuber Max Herzberg (vorne) im deutschen Gewinnerfilm „Lord of the Toys“.
© Dok Leipzig

Filmfestival Dok Leipzig: Gestörte Wirklichkeit

Schuldige Väter und schwer erziehbare Kinder: Eindrücke vom Filmfestival Dok Leipzig. Ein deutscher Preisträger löst Kontroversen aus.

The Kids are not alright. Die Gruppe junger Männer gröhlt und pöbelt vor dem Dresdner Hauptbahnhof, sie schmeißen ihre mit Wodka getränkten Melonenscheiben über den Vorplatz, beleidigen sich aufs Übelste und halten die Kamera drauf. Die Videos landen auf Youtube und Instagram, wo sie von Zehntausenden Followern geklickt werden. Deutschland im Jahr 2018. Doch wirklich überraschend ist der deprimierende Befund von Pablo Ben Yakovs „Lord of the Toys“ auch wieder nicht in einer Zeit, in der der Hassrap von Kollegah und Farid Bang in die Sprache auf deutschen Schulhöfen einsickert.

Auf dem Dokumentarfilmfestival Dok Leipzig sorgte der Film über eine Gruppe von Dresdner Youtubern vergangene Woche dennoch für eine Mini-Kontroverse, nicht zuletzt weil der 1996 geborene Max „Adlersson“ Herzberg der identitären Bewegung nahestehen soll. Schließlich sah sich Festivalleiterin Leena Pasanen sogar zu einer Pressemitteilung genötigt. Darf man diesen Spätpubertierenden, die „schwul“ und „Jude“ wie selbstverständlich als Schimpfworte benutzen, eine Öffentlichkeit geben? Hinter der Frage kommt ein interessantes Missverständnis über Dokumentarfilme und die Rolle von Festivals wie dem Dok Leipzig zum Vorschein. Im Vorjahr entflammte eine ähnliche Debatte um die vermeintlich unkritische Nähe der Regisseurin Sabine Michel zu den Aktivisten ihrer Pegida-Dokumentation „Montag in Dresden“.

Natürlich sollten einem Festivalpublikum solche Ausschnitte aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit zumutbar sein. Eine viel naheliegendere Frage wurde dabei jedoch ausgeblendet. Qualifiziert schon das Abbilden von Wirklichkeit für die Teilnahme an einem Dokumentarfilmwettbewerb? Dieses Kriterium würden auch die Filmchen der Youtuber erfüllen. Yakov fügt der tristen Selbstbeschreibung der Protagonisten im Zwangszustand einer verlängerten Adoleszenz keine erhellende Ebene hinzu. Das ist das eigentlich Deprimierende an „Lord of the Toys“, der zu allem Überfluss mit der Goldenen Taube für den besten deutschen Langfilm ausgezeichnet wurde. Vielleicht ist in Leipzig mal wieder eine Grundsatzdiskussion über den Dokumentarfilm nötig.

Darf den den Hassreden von Jugendlichen eine Plattform geben?

Denn er war nicht der einzige Film, der in diesem Jahr für Missverständnisse sorgte. Andreas Goldstein musste sich des Vorwurfs eines apologetischen Blicks auf die DDR erwehren. Sein Dokumentarfilm „Der Funktionär“ über seinen Vater Klaus Gysi, von 1966-73 Minister für Kultur, später Staatssekretär für Kirchenfragen, ist eine ernüchternde Rückschau auf einen Menschen, der sich am Ende der DDR von dem Staat, dem er trotz aller Skepsis diente, um seine linken Ideale betrogen sah. „Man musste nicht Kommunist sein, um die DDR der Bundesrepublik vorzuziehen“, erklärt Goldstein die Beweggründe des Vaters. Im Publikumsgespräch echauffiert er sich, dass es fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch nicht möglich sei, einen differenzierten Blick auf das andere Deutschland zu richten. „Der Funktionär“ schafft dies bravourös: ein Filmessay, der eine Biografie entlang des Geschichtslaufs vermisst und in der Montage aus Erinnerungen und Archivmaterial nach einem Verhältnis vom Privaten und dem Politischen sucht.

Wie schmerzhaft die Vergangenheit mitunter heute noch auf Betroffene wirkt, erfährt auch die Koryphäe Vitaly Mansky mit seinem neuen Film. Ihm werfen Landsleute im Publikumsgespräch Propaganda vor. Mansky sieht sich in „Putin’s Witnesses“ mit dem Abstand von 18 Jahren noch einmal seine Dokumentation über den russischen Präsidenten aus dem Jahr 2000 an und stellt sich dabei auch seiner unfreiwilligen Komplizenschaft beim Aufstieg des Autokraten. Putin erhält – natürlich – viel Redezeit, aber auch dessen Steigbügelhalter, der damals schon sichtlich kranke Boris Jelzin, der bereits während Putins Siegerrede realisiert, dass er seinem Land wohl einen Bärendienst erwiesen hat.

Es ist nicht zuletzt der historischen Rolle des Dok Leipzig als ehemaligem Dokumentarfilmfestival der DDR geschuldet, dass Fragen der Vergangenheit, der deutsch-deutschen Geschichte und nach dem Zustand Europas auch außerhalb der runden Jubiläen – das Festival feierte im vergangenen Jahr 60. Geburtstag – ein starkes Gewicht bekommen. Die Retrospektive widmet sich den „blinden Flecken“ des Jahres 1968, den Nebenschauplätzen, in einer anderen Reihe läuft Helke Misselwitz’ noch immer eindrucksvoller Porträtfilm „Winter Ade“ über eine neue Generationen von Frauen, der 1988 das Ende der DDR symbolisch antizipierte.

Der Hauptpreis geht an einen Film über eine italienische Politikerin, die gegen Berlusconi kämpft

Große Bögen schlagen auch die stärksten Filme im internationalen Wettbewerb, etwa Guy-Marcs Hinants bildgewaltiger „Charleroi, the Land of 60 Mountains“, der die ehemalige belgische Bergbaumetropole kunsthistorisch, politisch und sogar geologisch stratifiziert und zu einem nachdenklichen Zustandsbild über den Wandel Europas verdichtet. Oder Claudia Tosis „I had a Dream“ über eine Parlamentsabgeordnete und eine Lokalpolitikerin, die im Film noch einmal auf ihren gemeinsamen Wahlkampf gegen die sexistische Kampagne des italienischen Schreckgespensts Berlusconi im Jahr 2008 zurückblicken. Dass „I had a Dream“ den Hauptpreis gewann, ist sicher auch ein Spiegel der aktuellen politischen Verhältnisse.

Tosi gehört zu den sechs Regisseurinnen im internationalen Wettbewerb, womit das Festival die sich selbst verordnete Quote erfüllt hat. Élodie Lélu erinnert sich in „Letter to Theo“ in einem sehr persönlichen Film an ihren Mentor, den 2012 verstorbenen Regisseur Theo Angelopoulos, der just in dem Moment mit den Dreharbeiten an seinem (nie vollendeten) Film über die Krise in Griechenland beginnt, als die ersten Geflüchteten an der Küste des Mittelmeers ankommen und sich Demonstranten in den Straßen von Athen Gefechte mit der Polizei liefern.

Lélu bedient sich unter anderem der Originalaufnahmen von Angelopoulos, viele der Filme in diesem Jahr schwächeln hingegen formal, wenn sie auf eigenes Material zurückgreifen müssen. So auch „Der zweite Anschlag“ von Mala Reinhardt, der aus der Perspektive der Opfer und Hinterbliebenen der Anschläge von Mölln, Lichtenhagen und des NSU eine in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Kontinuität des Rassismus in Deutschland rekonstruiert. Die gute politische Absicht kann das Fehlen eine Konzepts nicht kaschieren, am Ende bekräftigen auch die bewegenden Aussagen der Betroffenen die Argumentation des Films nur unzureichend.

Das Festivalmotto „Positive Disturbances“ lässt sich angesichts der diesjährigen Themen – bis hin zur Hommage an Ruth Beckermann – auch als Intervention in die Wirklichkeit verstehen. Zweifellos kann es vor dem Hintergrund der kriselnden Demokratien in Europa nicht schaden, sich seinen Optimismus zu bewahren.

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