Wendecomic „Treibsand“ zum Mauerfall: Geschichte in Bildern
Kann ein Comic der Komplexität historischer Ereignisse gerecht werden? Kann er: Zeichnerin Kitty Kahane hat mit zwei Historikern den Wendecomic „Treibsand“ geschaffen.
Für einen Journalisten gibt es nichts Schlimmeres, als ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung zu verschlafen. Dem New Yorker Reporter Tom Sandman passiert es dennoch. Als tausende Ost-Berliner am Abend des 9. November 1989 zum Grenzübergang Bornholmer Straße strömen, liegt Sandmann in der Charité. Eine eitrige Kieferentzündung hatte ihn niedergestreckt.
Dieser journalistische GAU seiner fiktiven Hauptfigur ist ein geschickter Zug des Berliner Autorenteams Max Mönch, Alexander Lahl und Kitty Kahane, um in ihrem Comic „Treibsand“ von wenig bekannten realen Geschehnissen an jenem geschichtsträchtigen Abend vor 25 Jahren zu erzählen. Denn wer weiß schon, was in den Ministerien passiert ist, als DDR-Regierungssprecher Günter Schabowski versehentlich die Öffnung der Grenze verkündet und die Menschen bewegt hatte, die Mauern niederzureißen?
Max Mönch und Kitty Kahane kommen zum Gespräch an die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße. An diesem Erinnerungsort der deutschen Teilung, wo noch ein Stück Mauer steht, erklärt Mönch, dass die bekannten Bilder vom November 1989 nur einen Teil der Wende erzählen. So gut wie niemand wisse von den Ereignissen hinter den Kulissen, weil diese mit der „offiziellen Geschichte des Glückstags“ kollidierten, „an dem ein Volk auf die Straße geht, Beamte zu Menschen werden und schließlich die Mauer fällt“. Aber warum haben die Funktionäre um Egon Krenz nicht die Grenzen dichtgemacht oder den Befehl zu schießen erteilt? Zu Fragen wie diesen haben die Historiker Mönch und Lahl recherchiert. „Die Antworten darauf ändern die Erzählung vom 9. November 1989“, sagt Mönch.
"Treibsand" erzählt von einem auf Sand gebauten Staat
Tatsächlich entsteht bei der Lektüre von „Treibsand“ ein neues Bild. Tom Sandman schildert seine Erinnerungen an den Herbst 1989. Er erzählt von Treffen mit Oppositionellen, Republikflüchtlingen und Funktionären, von den Ereignissen in der Prager Botschaft der BRD, den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR und den ständig wachsenden Teilnehmerzahlen bei den Leipziger Montagsdemonstrationen. Er beschreibt einen auf Sand gebauten Staat – „Treibsand, der in Bewegung geraten ist“. Je mehr sich dieser Sand bewegt, desto stärker werden Sandmans Zahnschmerzen, bis sie ihn am Abend des 9. November überwältigen. Dem Autorentrio, das im letzten Jahr zusammen mit Tim Köhler bereits den historischen Comic „17. Juni – Die Geschichte von Armin und Eva“ veröffentlichte, verschafft die Ohnmacht ihres Helden den nötigen Spielraum, um von dem Teil der deutsch-deutschen Geschichte zu erzählen, der sich abseits der medialen Aufmerksamkeit vollzogen hat. Eine ganztägige ZK-Sitzung, interne Machtkämpfe und müde Funktionäre spielen dabei eine wichtige Rolle.
Auch die beiden Leipziger Bernd Lindner und Peter M. Hoffmann rufen in ihrem Comic „Herbst der Entscheidungen“ einen Teil der Wende in Erinnerung, den Mönch zur „offiziellen Geschichte“ zählen würde. Die im fotorealistischen Stil umgesetzte Erzählung konzentriert sich auf die Ereignisse in Leipzig und das Wirken der dortigen Bürgerrechtsbewegung. Im Mittelpunkt der Handlung, die entlang der Friedensgebete und Protestzüge aufgebaut ist, steht der 17-jährige Abiturient Daniel. Er will studieren, müsste dafür aber drei Jahre zur Armee. Für den sensiblen jungen Mann eine Gewissensfrage. Er wendet sich an eine kirchliche Beratungsstelle, kommt in Kontakt mit politisch aktiven Leipzigern und haut von zu Hause ab. Er zieht bei einer Widerstandsgruppe ein, verliebt sich in eine der Aktivistinnen und taucht in eine ihm bislang verborgene Welt ein.
Mit der Internetseite "Das Wunder von Leipzig" gewann Lindner den Grimme-Online-Award
Der Historiker Lindner hat Erfahrung darin, Geschichte populär aufzubereiten. Mit seiner Internetseite „Das Wunder von Leipzig“, die den Verlauf der brisantesten aller Montagsdemonstrationen am 9. Oktober 1989 nachvollziehbar macht, gewann er einen Grimme-Online-Award. Als Kurator im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig ist er für die Fotosammlung des Hauses verantwortlich. Kaum jemand dürfte mehr Bilder zum Leipziger Herbst 1989 im Kopf haben. Nicht nur ein Vorteil, wie er am Telefon erklärt, denn er habe neben den bekannten Bildern auch Situationen in den Comic bringen wollen, von denen es keine Aufnahmen gibt. Für diese Szenen hat er in seinem eigenen Bildgedächtnis gekramt. Da sei ihm beispielsweise ein Erlebnis im Leipziger Clara-Zetkin-Park eingefallen, als am 40. Jahrestag der DDR bei einem Feuerwerk das R aus dem Schriftzug „DDR 40“ aus dem Rahmen fiel. Natürlich musste die Szene in den Comic: „Die Republik stürzte damit symbolisch ab.“
Kann ein Comic der Komplexität der historischen Ereignisse gerecht werden? Lindner findet schon: „Graphic Novel verlangt Reduktion, gleichzeitig gibt sie die Möglichkeit, Spezifisches stärker herauszustellen.“ Der Berliner Max Mönch reagiert auf die gleiche Frage amüsiert. „Herrlich“ sei die Reduktion der geschichtlichen Details gewesen. Ohnehin sei es eine Illusion, dass man Geschichte exakt wiedergeben könnte.
Der Comic als "Graphic Documentary"
Entsprechend viele Freiheiten hatte Kitty Kahane bei der zeichnerischen Umsetzung der Erzählung. Mönch und Lahl lieferten der Illustratorin Stück für Stück das Szenario mit Erzähltext, Dialogen sowie einigen Bildideen, auf deren Basis Kahane die Geschichte umsetzte, während die Historiker weiter am Skript schrieben. War Kahane mit einer Seite fertig, schickte sie diese an die Autoren. „Da hatte ich schon manchmal Bauchschmerzen, ich wollte ja nicht einfach irgendetwas zeichnen“, räumt sie ein. Eine unberechtigte Sorge, wie Mönch deutlich macht. „Was Kitty zeichnet, ist gesetzt.“ Die bunten Zeichnungen der Berlinerin seien als Kunstwerk wertvoller als das Szenario gewesen, auch weil darin Aspekte sichtbar wurden, die im Text noch nicht erkennbar waren. So hat Kitty Kahane die Geschichte im Produktionsprozess auch etwas verändert.
Der Grad der Fiktionalisierung von Geschichte ist in beiden Wendecomics höchst unterschiedlich. „Wenn man sich bei der Erzählung von geschichtlichen Ereignissen zu sehr an die historischen Fakten klammert, kann eine Erzählung schnell erstarren“, sagt der Leipziger Zeichner Peter M. Hoffmann. Dennoch merkt man „Herbst der Entscheidungen“ an, dass die Autoren Geschichte populär vermitteln wollten. Der Comic ist eine Art „Graphic Documentary“ zum Wendejubiläum. Das Berliner Trio hat dagegen den Sprung in die Fiktion gewagt. Sie erzählen auf der Basis historischer Fakten eine eigene Geschichte. So hatte „Treibsand“-Zeichnerin Kahane die Freiheit, assoziativ zu illustrieren. Der Comic ist so auch ein Stück Kunst geworden, das mit den Möglichkeiten des Mediums spielt.
Alexander Lahl, Max Mönch, Kitty Kahane: „Treibsand“. Metrolit Verlag 2014, 176 S., 20 €. PM Hoffmann, Bernd Lindner: „Herbst der Entscheidungen“. Ch. Links Verlag 2014, 96 S., 14,90 €.
Thomas Hummitzsch