Das Concertgebouw Orchestra beim Musikfest: Geheimnisse und Enthüllungen
Plötzlich ohne Chef: Das Concertgebouw Orchestra reist mit Einspringer Manfred Honeck zum Musikfest Berlin an.
Es gehört zum Reiz des Musikfests, dass Gastorchester mit ihren Chefdirigenten anreisen, am besten mit einer leicht modifizierten Programmfolge, die so nur in Berlin erklingt. Darin lebt der Gedanke, dass aus der langjährigen Verbindung zwischen einem Orchester und seinem Dirigenten etwas Besonderes entstehen kann, etwas Intimes und Fragiles. Die Musikerinnen und Musiker des Concertgebouw Orchestra kommen dieses Jahr ohne Chef nach Berlin. Vor einem Monat gab das Orchester die Trennung von Daniele Gatti bekannt, wegen „unangemessenen Verhaltens“ gegenüber weiblichen Mitgliedern des Orchesters. Seitdem herrscht Schweigen, längst sind Juristen mit dem Fall beschäftigt, und es muss Ersatz für 49 Konzerte in dieser Saison gefunden werden. Doch die Verunsicherung im Orchester und bei seinen Fans sitzt tief. Letztes Jahr gab es noch Pralinen für alle zum Saisonauftakt, versehen mit „einem Kuss von Daniele Gatti“. Weil bislang nicht bekannt ist, was sich der ehemalige Chef genau zuschulden kommen ließ, zögern andere Orchester noch, Gatti als Gast den Laufpass zu geben, darunter die Berliner Philharmoniker.
Ob die Philharmoniker Gatti ausladen, ist noch offen
Unterdessen ist Manfred Honeck mehr als eine Notlösung für die aktuelle Concertgebouw-Tour. Der Österreicher begann selbst als Orchestermusiker und kennt das Innenleben des klingenden Kollektivs intensiver als viele seiner Kollegen. In Pittsburgh, wo er seit 2008 Chef ist, wird Honeck gefeiert und verehrt. Das Konzertprogramm, das er als Einspringer unverändert übernommen hat, bedeutet für ihn ein musikalisches Heimspiel: Webern, Berg und Bruckner, Höhe- und Wendepunkte auf dem Wiener Klassikparkett. Weberns „Fünf Sätze für Streichquartett in der Fassung für Streichorchester“ sind in ihrer komprimierten Form nur mit absoluter Fokussierung zu bewältigen. Die Concertgebouw-Streicher klingen wunderbar dunkel, aber nie schwer, auch wenn von ihrer Eleganz weniger zu spüren ist als gewöhnlich. Um vollends einzutauchen in Weberns Welt, müsste man sein Werk eigentlich wiederholen – was nach Bergs Orchesterliedern wunderbar gepasst und den Abend nicht gesprengt hätte. Die Sopranistin Anett Fritsch taucht sachte ein in die Seelenspiegelbilder nach Ansichtskartentexten des exzentrischen Peter Altenberg. Sie bewahrt die Contenance und darin auch ein Geheimnis, für dessen Enthüllung die Zeit noch nicht gekommen scheint.
Das Wienerische geistert umher, als wäre es ein Stück von Mahler
Bruckners 3. Symphonie erklingt nach der Pause in der vom Komponisten selbst gekürzten dritten Fassung. Honeck trachtet von Beginn an danach, dem Richard Wagner gewidmeten Werk nicht noch mehr Kanten zu nehmen. Gleich im ersten Satz stoßen die Klangblöcke mit Vehemenz gegeneinander, löschen ihren Nachhall beinahe aus im gewaltig aufragenden Klangschatten. „Misterioso“ will Bruckner diesen Satz gespielt wissen, und Honeck erfüllt ihm diesen Wunsch nachdrücklich. Das Wienerische lässt er dann so selbstvergessen durch Adagio und Scherzo geistern, als wär’s ein Stück von Mahler. Das wunderbare Orchester aber kommt an diesem Abend nicht gänzlich ins Freie. Die Lage in Amsterdam bleibt angespannt.