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Multimedia-Spektakel. Die weite Welt der Opernbühnen – und die Konsumentin mit Kopfhörer.
© V & A Museum

Oper und Politik und Brexit - eine große Schau in London: Gehalt und Leidenschaft

Großes Drama – und ein Plädoyer für Europa: Das Victoria & Albert Museum London präsentiert 400 Jahre Operngeschichte

Venedig sehen und hören, gestorben wird später. Gestorben wird in dem Genre, das hier zur Rede steht, ja sehr ausgedehnt. Am Anfang dieser exquisiten Opernreise aber steht kein Schwert, kein Gift und auch keine schreckliche Krankheit, sondern ein Paar rosettengeschmückte Slipper. Die feinledernen Schuhe sind auf klobige, bald 20 Zentimeter hohe Holzklötze montiert und erinnern an den Kothurn der Schauspieler im antiken Amphitheater. Ihnen eignet tatsächlich etwas Amphibisches: Mit diesen halsbrecherischen Geräten staksten Damen des 17. Jahrhunderts durch die Lagunenstadt. Sie wirkten damit größer und kamen bei Hochwasser trockenen Fußes zum musikalischen Rendezvous an.

Oper ist eine von Menschen gemachte Naturgewalt. Am Ende des Rundgangs, im Moskauer Winter des Jahres 1936, kämpft Dimitri Schostakowitsch mit der sowjetischen Kunstpolizei. Es geht um „Lady Macbeth von Mzensk“. Eine etwas zu temperamentvolle Aufführung der Oper kostet ihn beinahe den Kopf. Formalistisch, dekadent, „keine Musik“. So urteilt Stalin selbst. Musikkritiker und Tyrannen langen gern mal kräftig hin.

Gehalt und Gewalt und Leidenschaft. Mit der Ausstellung „Opera. Passion, Power and Politics“ hat das Victoria & Albert Museum London seine neuen Räume in der Sainsbury Gallery eröffnet. 400 Jahre Operngeschichte rollt die Kuratorin Kate Bailey auf. Der Besucher bewaffnet sich mit High-Tech-Kopfhörern und schreitet die neuralgisch-historischen Punkte ab. Jeder Raum hat seine eigene Musikeinspielung, die smarten Geräte blenden das passende Programm ein und aus. An sieben Stationen hält der Opernzug. Die erste: Claudio Monteverdis „L'incoronazione di Poppea“ erlebt 1642 im venezianischen Karneval ihre Uraufführung. Die Oper kommt aus den höfischen Mauern heraus in eine größere Öffentlichkeit.

In England hatte das Theater schon immer enge Verbindung zum Business. Georg Friedrich Händels Oper „Rinaldo“ hat 1711 in London sensationellen Erfolg. Gesungen wird auf Italienisch, es ist die Zeit der Castrati. Das V & A präsentiert en miniature eine Rekonstruktion der bahnbrechenden „Rinaldo“-Produktion; raffinierte Bühnentechnik, verblüffende Effekte, magischer Zirkus mit Seejungfrauen, hohen Wellen und einem Schiff in Not. Britische Theaterunternehmer fürchteten damals den starken Einfluss und die Konkurrenz vom Kontinent.

Die Kultur fürchtet den Brexit

Jetzt ist es umgekehrt. Mit wem man auch in London spricht, die Kultur- und Tourismusszene zittert vor der eigenen Regierung. Und vor der britischen Bevölkerung, die sich von antieuropäischer Propaganda, von Fake News und Horrorclowns wie Boris Johnson im Juni 2016 zum Pro-Brexit-Votum treiben ließ. Die Schockwellen haben nicht nachgelassen, sondern sie werden stärker. Klein-Großbritannien droht die Isolation.

Oper lebt durch den Austausch der Kulturen, sie funktioniert als Schmelzofen nicht nur der Gefühle, sondern auch der philosophisch-politischen Ströme. Und in London fällt es jetzt natürlich noch heftiger auf, wie sehr die Geschichte der Oper eine europäische ist und eine Geschichte von städtischer Zivilisation. Martin Roth, der im Sommer verstorbene deutsche Direktor des Victoria & Albert, hat das in Zusammenarbeit mit dem Royal Opera House entstandene Projekt über Jahre mit vorangetrieben, es gehört zu seinem Vermächtnis. Es zeigt die brutale Absurdität des Brexit. Opera und Europa, das sind Synonyme. Ähnlich könnte man die Historie an den großen europäischen Romanen entlangführen. Beide repräsentieren Europas kulturellen Reichtum, der in diesen Zeiten an sich selbst verzweifelt.

Kunst ist ohnmächtig, Kunst dreht am großen Rad. Das merkt man oft erst viel später. Geschichte wird immer neu zurechtgelegt, auch das bedeutet Macht. Wolfgang Amadeus Mozarts „Le nozze di Figaro“ kommt 1786 in Wien auf die Bühne, in der Zeit der Aufklärung. Allein die Idee, dass in diesem Werk Menschen verschiedener Stände streiten und debattieren, ist nicht nur musikalisch mitreißend und unterhaltsam, es war auch einmal eine brisante politische Aussage.

„Die Hochzeit des Figaro“ ist die dritte Station dieser Schau, die sich aufblättert wie ein Buch, illustriert aus der überreichen Kostüm- und Objektsammlung des V & A – mit Stücken, die sonst ohne ihren Zusammenhang, ihrer Herkunft entfremdet, im Museum überleben. Hier steht, als Leihgabe aus Prag, Mozarts Klavier, auf dem er den „Don Giovanni“ probierte. Die Präsenz von Originalen verschafft dem Besucher wohlige Schauer. Hier flitzten Amadeus’ Finger über die Tasten ...

"Salome" und die Psychoanalyse

Von nun an verdichtet sich die Historie, werden die Zeitsprünge kürzer. Mailand rückt mit Guiseppe Verdis „Nabucco“ in den Blickpunkt, die Oper wurde 1842 an der Scala uraufgeführt. Nie klang der Ruf nach Freiheit feierlicher. Verdi saugt italienische Unabhängigkeitsbestrebungen auf, und wenn man den Kopfhörer aufbehalten hat, geht man nun mit dem Ohrwurm des Gefangenenchores („Va pensiero“) im Kopf weiter. Zunächst nach Paris, zu Richard Wagners „Tannhäuser“ und ins Jahr 1861, und dann nach Dresden, in die Semperoper, zu Richard Strauss und seiner „Salome“ anno 1905.

Plakate, Zeichnungen, Gemälde, Originalpartituren, Bühnenmodelle gibt es reichlich zu sehen, das ist zu erwarten. Musik lässt sich ja als solche nicht ausstellen, da müssen die Requisiten her. Je näher die Zeitreise an die Moderne heranrückt, umso vielfältiger die Medien. Ein kurzer, verrauschter Film zeigt den jungen Komponisten Schostakowitsch am Klavier, andere Schnipsel dokumentieren Bayreuther Orgien mit Tänzerinnen auf dem Venusberg. Oper verbindet sich gern mit Skandal. Was bei Wagner immerzu brodelt und schwelgt, tritt bei Strauss und der Psychoanalyse mit Macht zutage. Die Studien zur weiblichen „Hysterie“ von Sigmund Freud und anderen grundieren jetzt die Libretti.

Oper ist wie ein Schwamm. Sie enthält alles Menschliche und Künstliche, und was nicht drinsteckt, packen Regisseure hinein. Aber die Schau im V & A widmet sich den Werken, nicht der Inszenierungsgeschichte. Die Konzentration auf sieben Meilensteine und Opernzentren und ihre Verbindungen zur europäischen Weltgeschichte entspricht mehr oder weniger dem klassischen Repertoire. Es dreht sich alles um die Opern, die man kennt oder zu kennen glaubt, die big names; seltsamerweise fehlt Giacomo Puccini.

Und mit Schostakowitsch hält der Zug sehr früh. Der Mangel an Moderne wird ein wenig in dem zentralen Raum geheilt, um den herum sich die sieben Stationen gruppieren. Da bekommt man plötzlich Philip Glass aufs Ohr und sieht auf großer Leinwand „Einstein on the Beach“, Szenen aus Robert Wilsons grandioser Inszenierung, die er vor ein paar Jahren wiederaufgenommen hat. Es laufen dort zum Beispiel und gleichsam als Alibi Karlheinz Stockhausens „Mittwoch aus Licht“ (1997), John Adams’ „Death of Klinghoffer“ (1991) und Benjamin Brittens „Peter Grimes“ (1945).

Aber natürlich kann eine so große Schau über die Geschichte der Oper nicht ernsthaft in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts abbrechen. Es sei denn, die zentrale These lautet: Zeitgenössische Oper ist zwar nach wie vor streitbar, aber das Ganze hat doch an gesellschaftlicher Bedeutung verloren, Umwälzungen spiegeln sich nicht mehr auf der Opernbühne wider.

Seit den sechziger Jahren verändert sich die Welt durch den Pop, kommen die großen Komponisten nicht mehr aus der sogenannten Hochkultur. England ist, im Zusammenspiel mit den USA, das Mutterland der Pop-Kultur. Eine Band, eine Supergroup, ein Konzeptalbum, das alles sind im Grunde englische Erfindungen.

Von David Bowie zu Pink Floyd

Darauf ist das V & A in den letzten Jahren ausführlich eingegangen, mit berechtigtem Stolz. Das Museum hat eine einzigartige Technik für die Darstellung von Musik und Mythen entwickelt. Pop als politische Zeitreise. Die „Opera“-Ausstellung profitiert von dieser Erfahrung und schließt museologisch an die großen Pop-Archiv-Präsentationen des Victoria & Albert an.

Die Pop-Reihe begann mit David Bowie und setzte sich mit „1967. You Say You Want a Revolution?“ fort. An diesem Sonntag endet die Schau „Pink Floyd. Their Mortal Remains“. Die Pop-Erforschungen des gewaltigen Museums haben Ausstellungsgeschichte geschrieben. Der Opernrückblick folgt mit all den Devotionalien, den Brennpunkten, dem kondensierten Drama und dem Kopfhörer-Parcours dem gleichen ästhetischen Prinzip wie die „sterblichen Überreste“ von Pink Floyd oder Bowie. Und „Opera“ strahlt zurück auf die Pop-Ikonografie. Nur dass im Pop nicht die Figuren auf der Bühne, sondern die Originalgenies im echten Leben sterben, wie Pink Floyds Syd Barrett und Ziggy Stardurst Bowie.

Es gibt da eine Überraschung: Ein Pink-Floyd-Album wie „The Dark Side of the Moon“ allein schon lässt sich leichter, umfänglicher, sinnlicher dokumentieren als Wagners Gesamtkunstwerke. Pop ist so gerade nicht vergänglich, Oper in gewisser Weise schon.

Die Oper wird – ein großes Geschenk – immer aufs Neue belebt. Das ist ihrem Alter geschuldet und der Tatsache, dass jede Opernaufführung auch eine Wiederherstellung und Deutung sein muss. Sie existiert nur live, in einem Raum mit Menschen, Musikinstrumenten, Kunstobjekten, auf einer Bühne mit Scheinwerfern Ein Verdi und ein Wagner haben Spielfelder hinterlassen, auf die andere hinausgehen. Der Ablauf einer Oper ist klar festgelegt, die Dramaturgie bekannt, aber das Ergebnis durchaus offen.

Mit der unendlichen Fülle und den schier unbegrenzten Möglichkeiten elektronischer Speichermedien wirkt die Pop-Musik der Tendenz nach musealer. Pop und die Technologie, die Pop-Kultur verbreitet und aufhebt, haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts parallel entwickelt. Oper auf Platte und CD bleibt immer ein Kompromiss. Für die Konserve wurde sie, anders als ein Pop-Werk, nicht geschrieben.

Wie beide, Pop und Oper, aus der Innovation leben und Gesellschaft spiegeln, das wird greifbar. Es gibt in Europa kein zweites Museum von solcher Flexibilität. Die Pink-Floyd-Schau soll übrigens, wie damals „Bowie is“, nach Deutschland kommen, aber nicht nach Berlin, sondern nach Dortmund. Oper wird im Ruhrgebiet auch gespielt, in der kostbaren Tradition des deutschen Mehrspartentheaters.

Und das V & widmet sich demnächst dem großen Bären Winnie-the-Pooh.

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