Abschluss des Dok-Festivals Leipzig: Gegen die Regel
Knast, Krankenhäuser, Krisenherde: Das 57. Dokumentarfilmfestival in Leipzig ist vorüber. Es ging dahin, wo es wehtut.
Am Anfang, noch vor der Bilderflut, fällt dieser Satz: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren“. Der scheidende Festivaldirektor Claas Danielsen zitiert zur Eröffnung des 57. Dokumentarfilm-Festivals Leipzig Benjamin Franklin. „Nehmen Sie sich Ihre Freiheit, niemand anderes wird das für Sie tun,“ fügt er hinzu. Der Saal im Multiplex-Kino ist ausverkauft, die Veranstaltung wird in einen zweiten Saal übertragen, auch dort ist jeder Platz besetzt. Dabei hat niemand mit der nächsten Rede gerechnet: Edward Snowden, Protagonist von Laura Poitras’ Eröffnungsfilm „Citizenfour“, grüßt das Publikum mit einer Videobotschaft. Das hatte er weder zur New Yorker Weltpremiere noch zur Europapremiere in London getan. Aber Leipzig, die Stadt der friedlichen Revolution „gewöhnlicher Leute gegen außergewöhnliche staatliche Macht“, das war für ihn etwas anderes.
Ein paradigmatischer Auftakt für einen ungewöhnlich politischen Festivaljahrgang. Syrien, die Ukraine, Afrika, die USA – die Schauplätze der aktuellen Nachrichten finden sich im Programm. Nach zehn Jahren verabschiedet sich Danielsen – zum 1. Januar löst die Finnin Leena Pasanen ihn ab – mit einem weltpolitischen Programm, bei der Preisverleihung wird er mit Standing Ovations gefeiert. Dabei hatte er sich zu Beginn seiner Amtszeit wenig Freunde gemacht, als er die Friedenstaube im Festivallogo kurzerhand durch eine Straßentaube ersetzte, um sie „vom Sockel zu holen“. Aktualität allein sei kein Auswahlkriterium, betont Programmleiterin Grit Lemke: Entscheidend ist die künstlerische Qualität. Es geht weniger um Informationsvermittlung als um den eigenen Blick. Schon die Trennung zwischen privat und politisch, Inszenierung und vermeintlicher Realität ist irreführend – hebt das Genre sie doch im besten Fall auf. Der sogenannten Wirklichkeit ist nur mit konsequenter Subjektivität beizukommen.
In den Institutionen wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft verhandelt
Vielleicht stehen deshalb in den stärksten Wettbewerbsbeiträgen Institutionen im Mittelpunkt. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird in der Psychiatrie, im Jugendknast, in der Schule, im Obdachlosenheim oder der Arbeitsagentur verhandelt, hier geraten persönliche Freiheit und Gemeinwohl aneinander. Der Blick in die Institutionen macht zudem sichtbar, was gewöhnlich von der Gesellschaft abgeschottet wird. So zeigt Jorge Pelicanos wundervolle Dokumentation „Suddenly my thoughts halt“ die schaurigschöne Parallelwelt einer Psychiatrie bei Porto. Verblüffend klug und voller Humor tauschen sich die Patienten aus, philosophieren über Gott und die Welt, ihren eigenen Geisteszustand und die Außenwelt: „Ein paar von denen da draußen mögen mich nicht – aber was soll’s, nicht einmal Gott hat es allen recht gemacht“, stellt einer grinsend fest. Die Kamera hält den Alltag in surrealen Nahaufnahmen fest (eine Zigarette, deren Glut sich fast fatalistisch vorarbeitet, ein Stück Zucker, das dramatisch im Kaffee versinkt); die Close-ups wechseln mit gemäldeartig komponierten Totalen. So verschiebt der Regisseur die Wahrnehmung und stellt die sonst üblichen Wirklichkeitskonzepte infrage.
Gewinnerfilm "The Rules of the Game"
Im Gewinnerfilm des internationalen Wettbewerbs, „The Rules of the Game“ aus Frankreich, gelten abweichende Verhaltensweisen eher als zu korrigierende Probleme. Claudine Bories und Patrice Chagnard porträtieren eine private Agentur, die Jugendliche im strukturschwachen Lille für den Arbeitsmarkt tauglich machen soll. Weg mit den Turnschuhen, bitte nett lächeln, und bloß nicht im Bewerbungsgespräch die eigenen Schwächen preisgeben! Zum Glück wollen die geschickt-geschmeidigen Kniffe der Selbstvermarktung den Jugendlichen einfach nicht in den Kopf.
Institutionen können auch Rettungsanker sein. So zum Beispiel für Toto und seine Schwestern im gleichnamigen Film, denen die Schule die einzige Alternative zu Drogenhandel und Gewalt in der Romasiedlung in Bukarest bietet. Als Zuschauer fiebert man mit, ob sie genug Kraft haben, ihren Weg zu gehen. Regisseur Alexander Nanau, der den jungen Protagonisten immer wieder die Kamera in die Hand gibt, begegnet ihnen auf Augenhöhe. So gewinnen sie ein Stück Autonomie.
Thomas Heise nähert sich in „Städtebewohner“ den Insassen eines mexikanischen Jugendknasts. Betörend schöne Bilder in Schwarz-Weiß, künstlerische Überhöhung, Brecht’scher V-Effekt: eine berührende Meditation über minderjährige Mörder. Die Taube, die vor der Gefängnismauer entlangtrippelt, ist eine gewöhnliche Straßentaube. Und doch verkörpert sie vor dem hermetisch abgeriegelten Gebäude eine Art Hoffnung.
Julia Dettke
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