zum Hauptinhalt
Hwanhee Hwang, Sergiu Matis, Takao Suzuki und Sophia Sandig in „Wirbel“.
© Eva Radünzel

25 Jahre Sasha Waltz & Guests: Gegen den Strom tanzen

Die Compagnie Sasha Waltz & Guests feiert im Radialsystem ihr 25-jähriges Bestehen – mit dem Improvisationsabend „Dialoge – Wirbel“.

Zuerst hört man ein knackendes Geräusch, als ob etwas zerbricht. Wenig später den kratzende Bogenstrich eines Cellos. Ein Hauchen und Fauchen, zartes Geklingel geht über in Schaben, Quietschen und Puckern. Es ist ein experimentelles Klanglaboratorium, das die Komponisten Jonathan Bepler und Andrea Parkins mit der Cellistin Rachel Maio in „Dialoge - Wirbel“ im Radialsystem erschaffen. Die Klangkünstler, die auf der Bühne platziert sind, präsentieren nicht nur überraschende musikalische Facetten, sondern erforschen auch mit spielerischem Elan die Materialität der Klänge. Die neun Tänzerinnen und Tänzer werden in diese wilde Klangküche hineingezogen – sie tauchen ein ins Unbekannte und erkunden ihren Körper, als ob er ihnen plötzlich fremd geworden sei. Dieser Abend will an den Sinnen kratzen. Für zwei Stunden ist es möglich, aus den künstlerischen Routinen und dem Diktat des Alltags auszubrechen. Gegen den Strom zu schwimmen, ist hier ausdrücklich erwünscht.

Sasha Waltz & Guests feiern in diesem Jahr ihr 25-jähriges Bestehen, im September wird die Compagnie eine neue Produktion herausbringen. „Dialoge - Wirbel“ ist der Prolog zu den Feierlichkeiten. Sasha Waltz kehrt hier gewissermaßen zu ihren Anfängen zurück. Künstlerische Weggefährten aus 25 Jahren treffen an vier unterschiedlich besetzten Improvisationsabenden auf Tänzer der Compagnie. Davide Camplani und Virgis Puodziunas gehören zu den Treuesten der Tänzer, sie arbeiten seit 1999 für Sasha Waltz & Guests. Auch Takako Suzuki, die Sasha Waltz 1992 in Berlin traf, ist bis heute eine Stütze des Ensembles. Mit der Isländerin Inga Huld Hákonardóttir und dem syrischen Tänzer Enad Marouf sind auch neue Gesichter an diesem Abend zu sehen. Die größte Überraschung aber ist: Sasha Waltz mischt sich selbst ins Getümmel.

Und der dunkelhaarige Wirbelwind, der über die Bühne fegt, ist niemand anderes als ihre 15-jährige Tochter Sophia. Die hat schon in der Kindertanzcompany Berlin mitgemacht und erweist sich hier als wunderbar spontane, wache und vorwitzige Performerin. Beherzt geht sie auf die Anderen zu, verwickelt sie in Duette – und schreckt auch nicht vor riskanten Situationen zurück. Sergiu Matis, so präzise wie neugierig-verspielt, setzt immer wieder schöne Akzente und erweist sich dabei als verlässlicher Partner. Hwanhee Hwang in hellrotem Kleid und weißen Strümpfen zieht immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich. Die Koreanerin verbindet ein ausgeprägtes Formbewusstsein mit großer Musikalität. Sie erschafft nicht nur flüchtige, punktuelle Ereignisse, sondern entpuppt sich darüber hinaus als eine Meisterin der Variation.

Verwirbelungen gehen über in Verknäuelungen

Doch auch Sasha Waltz gibt immer wieder wichtige Impulse, sie prescht vor, treibt an oder beobachtet die anderen Performer. Alle beteiligten Künstler haben sich erst wenige Stunden vor der Aufführung getroffen, es gab also kaum Vereinbarungen: Die Ereignisse sind aus dem Moment geboren. Die Kunst der Improvisation erfordert eine besondere Form der Präsenz. Geistesgegenwart, gepaart mit Sensibilität und Offenheit – all das blitzt auf an diesem Abend, der auch schon mal lustvoll durchs Chaos navigiert. Für ein Quäntchen Übermut sorgt dann vor allem Sophia Waltz.

Der erste Teil wirkt eher düster und hat etwas Surreales. Das liegt auch an den flackernden Videos von Lillevan, die auf die Körper der Tänzer projiziert werden. Wirken die Performer anfangs noch vereinzelt, so werden sie nach und nach zu Komplizen, energetische Wirbel erschaffen sie erst im zweiten Teil. Die Gruppe läuft im Kreis, Takako Suzuki ändert spontan die Richtung und läuft rückwärts. Sasha Waltz hakt sich bei dem einen ein, zieht den anderen mit. Es entsteht eine Energie, die alle mitreißt. Später kreiseln die Tänzer wie Planeten über die Bühne. Die Verwirbelungen gehen über in Verknäuelungen, Arme und Beine verknoten sich, am Ende verschmelzen die Leiber zu einer atmenden Kugel. Weitere Künstler werden sich noch in diesen Strudel werfen: Am nächsten Wochenende ist mit Julyen Hamilton ein Guru der Improvisation dabei. Aus New York kommt die Choreografin Yoshiko Chuma, die bekannt wurde mit ihrer School of Hard Knocks.

In den letzten Jahren vermisste Waltz den Freiraum

Einige werden sich noch erinnern: Als Sasha Waltz neu in Berlin war, lud sie zu fünf „Dialoge“-Abenden ins Künstlerhaus Bethanien. Bei diesen Showings im Jahr 1993 trafen Tänzer, Musiker und bildenden Künstler aufeinander, um nach Herzenslust zu improvisieren. Das war die Initialzündung für die „Dialoge“-Projekte, die mit der Zeit immer größer wurden – man denke an die ortsspezifischen Performances im Jüdischen Museum (1999), im Radialsystem (2006) oder im Neuen Museum (2009).

„Dialoge 9“ im Neuen Museum, 2009.
„Dialoge 9“ im Neuen Museum, 2009.
© Sebastian Bolesch

Oft dienten die „Dialoge“ nur dazu, das choreografische Material für ihre Bühnenstücke zu entwickeln. Bis heute sind sie jedenfalls ein Kraftzentrum für  Sasha Waltz' choreografische Arbeit: „Das Wichtigste an den Projekten ist für mich, ganz unterschiedliche tänzerische Formen und musikalische Welten zu erfahren. Es geht mir dabei nicht um eine ästhetische oder inhaltliche Eingrenzung, sondern um die größtmögliche Freiheit der Kunst .“

Dass Sasha Waltz nun mit „Dialoge - Wirbel“ eine Lanze für die Kunst der Improvisation und den freien Geist bricht, zeigt, dass sie ihren Ursprüngen treu geblieben ist. In den letzten Jahren hat sie vor allem Opern produziert und musste dabei einen riesigen Apparat bedienen. Für Spontanität und Offenheit war da kein Platz. Sie habe in den letzten zehn Jahren den kreativen Freiraum vermisst, hat sie im letzten Jahr anlässlich der Premiere von „Kreatur“ gestanden. Umso mehr genießt sie den Rechercheprozess mit ihren Tänzern und den intensiven Austausch mit der Designerin Iris van Herpen und dem Soundwalk Collective.

Ist dies der „last Waltz“?

Sasha Waltz & Guests haben, angefangen mit der „Travelogue“-Trilogie, in den vergangenen 25 Jahren nicht nur den Tanz in Berlin geprägt, sondern auch weltweit Erfolge gefeiert. Sie haben neue Räume eröffnet für den Tanz, neue Ästhetiken ausprobiert und mit tollen Gastkünstlern zusammengearbeitet.

Sasha Waltz in „Travelogue I“ von 1993.
Sasha Waltz in „Travelogue I“ von 1993.
© Dirk Bleicker

Zum Jubiläum stellt sich nun die drängende Frage: Wird Sasha Waltz, die designierte Intendantin des Staatsballetts Berlin, weiter für ihr Ensemble choreografieren? Oder ist dies der „last Waltz“? Pressefrau Anne Wagner zerstreut solche Befürchtungen. Bereits über das Jahr 2019 hinaus seien Neuproduktionen von Sasha Waltz & Guests in Planung, versichert sie. Schließlich hat Waltz mit Bedacht Johannes Öhman als Co-Intendanten des Staatsballett ins Boot geholt (der bereits in der nächsten Spielzeit loslegt). So hat sie Zeit und Energie für ihr eigenes Ensemble. Neben dem Berliner Spielbetrieb, internationalen Gastspielen und der Repertoirepflege wollen Sasha Waltz & Guests sich auch verstärkt im Bereich „Education & Community“ engagieren.

Ihre erste Choreografie für das Staatsballett wird Sasha Waltz im April 2020 vorstellen. Um den Spagat zwischen den extrem unterschiedlichen Tanzcompagnien hinzubekommen, wird sie ganz schön wirbeln müssen. Bleibt zu hoffen, dass sie dabei nicht in reißende Gewässer gerät.

Weitere Aufführungen: 14. & 15. April

Zur Startseite