Frauen in der Klassik: Für Elise? Mit Elise!
Jahrhundertelang war die klassische Musik von Männern dominiert. Das ändert sich gerade. Ein Streifzug durch die Welt der Musikerinnen, Dirigentinnen und Intendantinnen.
Hande Küden hatte ihr Erweckungserlebnis im Alter von neun Jahren. In Adana, an der türkischen Mittelmeerküste, sang sie damals im Kinderchor. Bei einem Konzert trat nach dem Chor ein Violinsolist auf. Vom Klang dieses Instruments war Hande Küden so hingerissen, dass sie ihre Eltern, die mit europäischer Klassik nichts am Hut hatten, überredete, ihr Geigenunterricht zu organisieren.
Byol Kang stammt aus einer koreanischen Musikerfamilie und ist im Rheinland aufgewachsen. Mit vier Jahren setzte ihre Mutter sie ans Klavier, mit wenig Erfolg: „Ich fand es schrecklich, beim Spielen die ganze Zeit auf den Klavierkorpus zu starren, wie auf eine Wand.“ Da war die Geige, die sie mit acht Jahren erstmals in die Hand nahm, schon mehr nach ihrem Geschmack: Nicht nur, dass sie jetzt freie Sicht hatte. Wenn sie wollte, konnte sie beim Üben auch noch durch die Wohnung wandern.
Beide Mädchen erweisen sich als hochbegabt, lernen schnell, starten das Studium in ihrer jeweiligen Heimatregion, wechseln später an die Berliner Hanns Eisler-Hochschule. Seit Herbst 2016 sitzen sie beim Deutschen Symphonie-Orchester in der ersten Reihe, als stellvertretende Konzertmeisterinnen. Wenn die 1985 geborene Hande Küden und die 1992 geborene Byol Kang von ihrem musikalischen Werdegang erzählen, fällt auf, dass sie mit keinem Wort erwähnen, dass die Klassik eine Männer-Domäne ist. Selbst auf Nachfrage können sie sich nicht daran erinnern, als Frauen irgendwelche Nachteile gehabt zu haben.
Von 12 auf aktuell 38 Prozent
Offensichtlich ist da Einiges in Bewegung geraten. 1987 saßen in deutschen Orchestern gerade einmal 12 Prozent Frauen, 1999 waren es 26 Prozent, aktuell sind durchschnittlich 38 Prozent weiblich. Damit tasten sich die Profi-Formationen langsam an die Quoten der Hochschulen heran. Unter den Studierenden im Fach Orchestermusik hielten sich Frauen und Männer schon 2001 die Waage, bei den erfolgreichen Studienabschlüssen hatten die Instrumentalistinnen sogar die Nase vorn. Und noch etwas zeigen die Zahlen: Wenn Orchester Vorspiele für offene Stellen veranstalten, liegt die Erfolgsquote der Frauen im Durchschnitt höher als die der Männer. 1991 waren nur 35,5, Prozent der Teilnehmer weiblich, eingestellt wurden aber 42,5 Prozent.
Ein Sonderfall sind nach wie vor die Wiener Philharmoniker, die erst 1997 überhaupt eine Bewerbung von Musikerinnen zuließen. Zehn Jahre später lag der Frauenanteil bei 0,86 Prozent. 2012 gab es fünf Philharmonikerinnen, aktuell liegt die Zahl bei 15 von insgesamt 121 Mitgliedern. Für dieses Schneckentempo mussten sich die Wiener allerdings schon so viel Spott anhören, dass sich bei der extrem traditionsverliebten Vereinigung wohl bald mehr bewegen dürfte.
Von den 17 071 Versicherten der „Versorgungsanstalt der deutschen Kulturorchester“ sind aktuell 7363 Frauen. Betrachtet man die Alterspyramide, zeigen sich deutliche Akzentverschiebungen bei den Geschlechtern. Die Herren sind besonders stark in der Altersgruppe ab 50 vertreten, während bei den Frauen die stärksten Ausschläge zwischen 30 und 45 zu verzeichnen sind. Statistisch gesehen, ist die Zukunft der Klassik also eindeutig weiblich.
„Frauen haben mittlerweile keine Probleme mehr im Orchester, wohl aber Mütter“, sagt DSO-Konzertmeisterin Byol Kang. Zwar gibt es seit 2001 ein gesetzliches Recht aller Arbeitnehmer auf Teilzeitarbeit, doch funktioniert der Musikerberuf eben nach anderen Regeln als ein normaler Bürojob. Eine Halbtagsstelle im Orchester kann nicht bedeuten, dass die junge Mutter oder der junge Vater nur die vormittäglichen Proben mitmacht, nicht aber die abendlichen Konzerte. Hier müssen in jedem Fall individuelle Regelungen gefunden werden. Und nicht immer werden die Teilzeitler von den anderen Kollegen künstlerisch dann noch für voll genommen.
Generell gilt: Je berühmter ein Orchester, desto geringer die Frauenquote. Die Spitzenformationen gehen besonders häufig auf Gastspielreisen und sehen Teilzeitregelungen oft nicht vor, wie beispielsweise die Berliner Philharmoniker. Was das in der Praxis bedeutet, wenn sogar beide Eltern dort angestellt sind, berichtet die Geigerin Eva-Maria Tommasi eindrücklich in einem Interview mit Lena Pelull für Monika Rittershaus’ Buch „Moving music“. „Ich war acht Wochen nach der Geburt wieder im Dienst. In den Pausen kam meine Kinderfrau, damit ich stillen konnte. Als zwei Jahre später das zweite Kind zur Welt kam, habe ich es wieder so gehandhabt.“ Jedes Jahr mussten die Eltern ihre Kinder oft mehrere Wochen am Stück in Berlin zurücklassen. „Einmal hat mein Sohn – ich glaube, er war neun Jahr alt – einfach einer Kinderfrau gekündigt, als wir gerade in Schanghai waren“, berichtet die Violinistin. „Das sind unerträgliche Situationen, in denen es einen zerreißt.“ Tommasi hat die Herausforderung als Mutter und Musikerin zwar erfolgreich gemeistert, doch rät sie ihren jüngeren Kolleginnen dringend dazu, nach Geburten eine echte Auszeit zu nehmen.
Auch bei den Dirigentinnen gibt es gute Nachrichten
Die Orchestergewerkschaft DOV hat das Problem erkannt und will eine Flexibilisierung der Verträge vorantreiben, die bislang, wenn überhaupt, lediglich eine Reduzierung der Arbeitszeit auf halbe Stellen vorsieht. Das Philharmonische Staatsorchester Mainz geht da mit gutem Beispiel voran und erprobt gerade ein 75-Prozent-Modell, auch wenn das einen erheblichen Verwaltungsaufwand mit sich bringt. Im Bayerischen Staatsorchester gibt es bereits die Möglichkeit einer Eltern-Teilzeit mit einer befristeten 33-Prozent-Stelle, und zwar für Frauen wie für Männer.
Ein geschlechtsspezifisches Einkommensgefälle existiert im Bereich der Orchester übrigens nicht. Weil fast alle Mitglieder der staatlich finanzierten Klassikformationen auch Mitglieder in der DOV sind, handelt die Gewerkschaft Flächentarifverträge aus, bei denen in Sachen Bezahlung ausschließlich nach der Orchestergröße und nicht nach dem Geschlecht unterschieden wird.
Gute Nachrichten häufen sich derzeit übrigens auch, was die Dirigentinnen betrifft. Selbst hier, in der letzten Männerbastion der Klassik, vollzieht sich gerade ein Mentalitätswechsel, ganz ohne Proporz und Quote. Speranza Scappucci ist seit dieser Spielzeit Orchesterleiterin der Opéra de Wallonie in Liège, Joana Mallwitz, bislang Generalmusikdirektorin am Theater Erfurt, wechselt zum Herbst ans größere Staatstheater Nürnberg. Ewa Strusinska wird Musikchefin in Görlitz, Judith Kubitz übernimmt die Leitung des Sorbischen Nationalensembles in Bautzen und Marin Alsop tritt im Herbst 2019 beim ORF-Radio-Symphonieorchester Wien an.
Bis auch eines der international renommierten Spitzenorchester von einer Maestra geleitet wird, dürfte es zwar noch eine Weile dauern, im Management besetzen weibliche Führungskräfte dagegen schon jetzt einige Top-Positionen. Die neue Intendantin der Berliner Philharmoniker, Andrea Zietzschmann, ist bereits die zweite Frau auf dem Posten, Frauke Roth hat gerade ihren Intendantinnenvertrag bei der Dresdner Philharmonie verlängert, Ilona Schmiel bei der Zürcher Tonhalle. Poco a poco crescendo nennt man das in der Musikgrammatik: Stück für Stück kraftvoller werdend.
Am 16. März sind Hande Küden und Byol Kang bei einem Kammermusikabend des DSO in der Villa Elisabeth zu erleben. Auf dem Programm stehen Werke von Franz Schubert und Franck Martin.