Tagebuch von den Filmfestspielen Venedig (5): Früher waren die Skandale am Lido aufregender
In den Giardini blickt eine Ausstellung auf die Geschichte der Biennale zurück, und Regina King leistet einen Beitrag zu "Black Lives Matter".
Das Festival ist in diesem Jahr eine Wohltat. Keine Netflix-Debatten, keine Klagen über zu wenige Regisseurinnen im Wettbewerb, keine (berechtigte) Kritik an der Einladung von Roman Polanski oder Steve Bannon. Man merkt gerade wieder, wie die Großfestivals im Ringen um Aufmerksamkeit zuletzt im eigenen Saft schmorten – wir Journalisten sind von dieser Kritik nicht ausgenommen. In diesem Jahr fällt der Blick aufs Kino viel klarer aus, die Filme dürfen um ihrer selbst strahlen.
Der Venedig-Skandal ist natürlich keine Erfindung der Neuzeit, das Festival wurde schon immer von Kontroversen begleitet; es lebt von ihnen.
Die Ausstellung „The Disquieted Muses“ im Hauptpavillon der Giardini della Biennale erinnert an die Geschichte: In den Dreißigern teilten sich die Achsenmächte die „Coppa Mussolini“ untereinander auf, 1948 und 1960 wurde Visconti mit seinen „kommunistischen“ Meisterwerken „Die Erde bebt“ und „Rocco und seine Brüder“ von der Bühne gebuht, und Martin Scorsese brachte 1988 mit „Die letzte Versuchung Christi“ den Vatikan gegen sich auf.
Der Skandal gehört zur Marke Biennale, wie das Kapitel „Die Biennale und die Gesellschaft des Spektakels“ im Giardini-Pavillon anschaulich dokumentiert: 1972 entließ das Mass Moving Project aus Belgien auf der Piazza San Marco 10.000 Schmetterlinge in die Freiheit, 1990 inszenierte Jeff Koons Pornostar Cicciolina als Maria Magdalena. Dagegen wirken die Debatten der vergangenen Jahre fast ein wenig freudlos.
Verliebt in die visuellen Effekte der sozialen Medien
Eine Wohltat ist dieser Tage auch Venedig. Zwar fehlt die Architektur-Biennale als Ausgleich zum Kino-Marathon, dafür ist der Giardini ohne die Kunst-Touristen umso idyllischer. Die kurzfristig organisierte „The Disquieted Muses“ – ein Blick in die Geschichte der Biennale durch die Abteilungen Kino, Kunst, Architektur, Musik, Tanz – bietet natürlich keinen vollwertigen Ersatz, lohnt aber für einen kurzweiligen Streifzug durch die Archivbestände des Festivals.
Zurück auf dem Lido herrscht ebenfalls Ruhe. Selbst Gia Coppolas „Mainstream“, einer der meistantizipierten Filme, sorgt nur kurz für Stirnrunzeln. Ein Lebenskünstler (Andrew Garfield) wird über Nacht zum Internet-Phänomen, doch Coppolas harmlose Stilübung ist viel zu verliebt in die visuellen Emo-Effekte der sozialen Medien.
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Dauernd fliegen Smileys und Herzen durchs Bild oder jemand kotzt Blumen. Der Reiz des Neuen verflüchtigt sich schnell, auch weil niemand eine moralische Kritik an unserer Abhängigkeit von Smartphones braucht, die die Oberflächen trotzdem abfeiert. Hier leidet Coppola unter demselben Problem wie ihre Tante Sofia, die mit „The Bling Ring“ immerhin den besseren Influencer-Film gemacht hat.
Black Power im Hotelzimmer
Dafür erfüllt „One Night in Miami“, das Regiedebüt der Schauspielerin Regina King (gerade Emmy-nominiert als Sister Night in "Watchmen") die Erwartungen. King versucht erst gar nicht davon abzulenken, das ihr Kammerspiel auf einem Bühnenstück basiert. Am 25. Februar 1964 wird Cassius Clay der jüngste Schwergewichtsweltmeister.
In derselben Nacht sitzt er mit seinen Freunden Malcolm X, Soulsänger Sam Cooke und Footballstar Jim Brown in einem Hotelzimmer, um zu verkünden, dass er seinen Namen in Muhammad Ali ändern wird. Die (auf wahren Begebenheiten beruhende) Situation ist reif für unsere Zeit: Der Streit, der sich zwischen vier der damals populärsten (bzw. berüchtigsten) Afroamerikanern entspinnt, dreht sich um die Frage, welche Rolle sie in der Bürgerrechtsbewegung spielen wollen.
„One Night in Miami“ holt das Beste aus dem begrenzten Raum und den Darstellern raus (darunter Aldis Hodge und Leslie Odom Jr.), die Kamera umzirkelt die Freunde. Die schnellen Dialoge kommen ohne predigenden Tonfall aus. Der Konflikt im Zentrum des Films hat über 50 Jahre später nichts von seiner Brisanz verloren, er reicht bis zu Kanye West und Colin Kaepernick.