Fritz J. Raddatz: "Freunde - das ist ein heikler Plural"
Grass, Rilke, Sartre... – Fritz J. Raddatz’ Leben ist mit so vielen Namen verbunden. Helmut Schmidt, Augstein und Reich-Ranicki kommen bei ihm ziemlich schlecht weg.
Herr Raddatz, Sie haben sich zum 70. Geburtstag einen Grabstein geschenkt. Was gibt’s jetzt zum 80.?
Ein Bild, ich bin ja ein Augenmensch. Der Maler ist tot, aber er gehört zur Klassischen Moderne. Mehr verrate ich nicht.
Die passende Grabstätte haben Sie schon mit 50 erworben, recht früh.
Ich war da in einer Phase der gewachsenen Melancholie und dachte, mein Gott, man kauft sich alles Mögliche, einen Eisschrank, ein Auto, vielleicht sogar ein Haus. Doch die Leute denken dabei nie an die letzte Wohnung. Und meine sollte unbedingt auf Sylt sein, meiner zweiten Heimat. Es war gar nicht so einfach, weil der alte Friedhof in Keitum schon aufgelassen war, man konnte da nichts mehr erwerben.
Das war für Sie kein Hindernis …
… weil ich mit dem damaligen Pastor von Sankt Severin sehr befreundet war, dem verehrten Traugott Giesen, mit dem ich beim Rotwein wunderbare Streitgespräche über seinen lieben Gott geführt habe, der ja nicht mein lieber Gott ist. Er hat mich mit dem Chef der Friedhofsverwaltung verkuppelt, der zeigte mir eine Stelle zur Straße hin. Doch ich sagte ihm, hier ist es mir zu laut. Der nächste Platz war mir zu klein, man muss ja auch an seine Gäste denken. Den dritten habe ich genommen. Ein stiller, beschaulicher Ort mit alten Hecken und verfallenen Mäuerchen. Und, das Wichtigste, mit Blick aufs Watt.
Bekommen Sie nette Nachbarn?
Darauf habe ich in dem Moment gar nicht geachtet, aber ich kann nicht klagen. Ich werde vis-à-vis von Peter Suhrkamp und dem großen Kunsttheoretiker Ferdinand Avenarius liegen. Jetzt haben wir aber genug übers Grab geredet, noch lebe ich ja.
Sie sind vielfach porträtiert worden, Ihre zahlreichen Bücher wurden von allen großen Blättern rezensiert. Dabei nannte Sie der Tagesspiegel „Charmekatapult und Giftspritze“, für die „FAZ“ sind Sie „der Porsche unter den Epikern“, die „Süddeutsche“ sieht „ein leicht verwahrlostes Wesen von großen Talenten“, und die „Zeit“ alliteriert: „Genie, Geck, Galan.“ Wo erkennen Sie sich wieder?
Alles akzeptiert. Ich würde keiner dieser Charakterisierungen widersprechen. Nur die Anspielung mit dem Porsche ist albern, weil ich seit Jahrzehnten keinen mehr fahre. Es hat niemand über die Dönhoff gesagt, sie sei der Porsche der Hamburger Presse, obwohl sie noch als alte Dame Porsche fuhr.
Vergangenes Jahr haben Ihre „Tagebücher 1982–2001“ viel Aufsehen erregt. Die ehemalige „Zeit“-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff ist da als „dumme Herrenreiterin“ oder „Inge Meysel des Journalismus“ verewigt. Ihre Kritiker meinen, das seien Revanchefouls für Ihre Ablösung als Feuilletonchef im Jahr 1985.
Der Rauswurf hat mich sehr gekränkt. Und besonders gekränkt hat mich die Verhaltensweise der Dönhoff, ich fand das denunziatorisch, deutsch-typisch. Sie hat auf Seite 1 eine Glosse gegen mich geschrieben, statt sich, wie sich das gehört, vor einen angegriffenen Mitarbeiter zu stellen.
Dönhoff hat Ihnen „Schludrigkeit“ im Umgang mit Fakten vorgehalten. Sie hatten ein falsches Goethe-Zitat verwendet.
Den Fehler habe ich zugegeben, davor habe ich mich nie gedrückt. Ich habe aber nicht den Warschauer Aufstand mit dem Ghetto-Aufstand verwechselt, um ein Beispiel aus der Dönhoff’schen Fehlerschatulle zu geben. Besonders grauenvoll fand ich, dass sie mir das Manuskript der Glosse vor der Veröffentlichung durch einen Fahrer schickte, mit einem Brief: „Ich habe es ja so ungerne geschrieben, aber ich musste es tun.“ Das finde ich am Rande des alltäglichen Faschismus. Wieso musste sie? Wer hat sie gezwungen? Niemand.
„Zeit“-Herausgeber Helmut Schmidt nennen Sie einen „vollmundigen Banausen“. Warum dieser Ton?
Schmidt ist eine ganz andere Kategorie. Ich nehme ihm übel, dass er uns die Ohren vollsalbadert mit allem – wie der Euro gerettet wird und was er von Marlene Dietrich hält und wie es mit Giscard d’Estaing war und so weiter. Ich kenne nur keine Begründung von ihm, wieso er Oberleutnant in Hitlers Wehrmacht war. Für die Laufbahn als Offizier musste man sich freiwillig melden. Ich habe das recherchiert in einem militärhistorischen Institut. Womöglich wollte er sogar General werden, sagt aber heute, weil das so populär ist, im Taxifahrerdeutsch: Krieg ist Scheiße. Er hat doch in dieser Scheiße ganz schön mitgerührt, im Ostfeldzug. Hat er je gesagt, ich habe da einen dicken Fehler gemacht? Ich erinnere mich nicht. Also würde ich gerne wissen, wie er sich fühlte, als er den Eid ablegte auf den Führer …
… deshalb war Helmut Schmidt doch noch lange kein Nazi. Jeder Soldat der Wehrmacht musste ab 1934 auf Hitler schwören.
Ich rede nicht von Nazi. Ich rede vom Raubkrieg gegen die Sowjetunion und davon, dass einer freiwillig Führungskraft der Nazi-Armee wurde. Die Eidesformel lautete: „Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, dass ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, für diesen Eid mein Leben einzusetzen.“ Ich möchte vom früheren Bundeskanzler nur wissen, wie war ihm da zumute? Wie lange fühlte er sich an diesen Eid gebunden? Das interessiert mich, nicht seine Meinung über Marlene Dietrich.
Sie waren bei Ende des Krieges 14 Jahre alt. Träumen Sie noch von den Berliner Bombennächten? In der Friedrichstraße wären Sie fast verbrannt.
Sobald auf der Welt etwas Fürchterliches geschieht, in Afghanistan, im Sudan oder kürzlich in Norwegen, kommen die Angstträume. Ich bin dann wie ein Moor, in dem Blasen aufsteigen.
Wenn man Ihre Aufzeichnungen liest, Herr Raddatz, dann sind im Literaturbetrieb Neid, Intrigen, Eitelkeit und Verrat weit verbreitet.
Jeder ist sein eigenes Sonnensystem. Manche können ihren Narzissmus etwas zähmen oder kaschieren, nicht jeder ist so unerträglich wie Hans Mayer …
… den Sie als wahres Ego-Monster schildern. Der Tübinger Literaturwissenschaftler habe Ihnen stundenlang erzählt, wo er zuletzt geredet und wen Bedeutendes er getroffen habe, um dann zu sagen: „Und nun zu Ihnen, haben Sie mein neues Buch gelesen?“
So habe ich, nur als Beispiel, Martin Walser nie erlebt.
Er ist bescheiden?
So würde ich es nicht nennen, er hat ein sehr ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Aber er hat sich nie öffentlich selber gestreichelt.
Was Raddatz über Günter Grass denkt und warum Literaten Mimosen sind, erfahren Sie auf der nächsten Seite.
Und was ist mit Günter Grass?
Er ist ein besonderer Fall. Grass ist zu großer Kameradschaft und Freundschaft in der Lage. Dann wieder hat er die bewundernswerte Kraft, sich völlig auf sich zu konzentrieren und andere in ihren Nöten und Abstürzen gar nicht wahrzunehmen. Selbst zu seiner Frau Ute sagt er in solchen Momenten: Hol mal und mach mal und wie heißt diese Lithografie, die Frau muss wie ein Teewagen funktionieren. Wie bei Katia und Thomas Mann übrigens.
Woher kommt das?
Ich glaube, dass man diese Mauer gegen das Außen, gegen die böse Welt braucht. Die eigene innere Unberührbarkeit ist die Voraussetzung zur Kreativität, bei allen Künstlern. Schauen Sie sich Susan Sontag an, die nach außen gewendet wie eine strahlende, hochgebildete Intellektuelle wirkte. Wenn Sie nun die Tagebücher und Briefe von ihr lesen, sehen Sie eine einsame, verstörte Frau – ein ganz anderes Wesen. Das musste sie behüten, um wundervolle Essays schreiben zu können.
Können Sie dieses andere in einem Menschen spüren?
Bei Sontag ja und sehr bald. Enzensberger kenne ich als lächelnden, Kette rauchenden, erhabenen Menschen, ob es dahinter einen ängstlich zuckenden Enzensberger gibt, wüsste ich nicht. Bei Frisch ging es rasch, bei Dürrenmatt nicht.
Wie haben Sie Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt wahrgenommen, die beiden großen Schweizer Schriftsteller?
Frisch kippte schnell in Traurigkeit, und mit sinkendem Pegel der Weinflasche stieg der Pegel der Melancholie. Dürrenmatt war behäbig, weniger intellektuell als Frisch, er wirkte in sich ruhend, oft jovial, was ja schon nicht so gut ist, jovial ist man beim Skatspielen oder am Biertisch, aber nicht unter Kollegen. Gab es einen anderen Dürrenmatt, so habe ich es nicht bemerkt.
Können Sie erklären, warum Literaten so mimosenhaft sind? Kaum wurde Günter Grass in der „FAZ“ kritisiert, hing er halb weinend in Ihrer Leitung.
Das ist nicht nur bei ihm so und es mindert nicht meinen Respekt vor ihm. Ich wüsste keinen einzigen Künstler, der da anders wäre. Denken Sie mal, mit welch fiebernder Nervosität Thomas Mann, damals der König des Establishments, auf kleinste Einwände tief beleidigt reagiert hat. Oder Stefan Zweig, einer der Erfolgreichsten, Berühmtesten und schon von Hause aus schwerreich, war verzweifelt über irgendeine Kritik in einem Salzburger Blatt. Wir sind eben alle Igel mit spitzen Stacheln, aber drehen Sie mal einen Igel um, innen ist er weich und verletzlich.
Rolf Hochhuth, so scheint’s, bewundern Sie wegen seines dicken Fells.
Bewundern wäre zu viel gesagt, meine Bewunderung gilt seiner Arbeit, aber ich war immer baff. Hochhuth ist in der Lage, nach einem grauenvollen Verriss, in dem ihn ein Redakteur „Schiller in Unterhosen“ genannt hat, genau den am nächsten Tag anzurufen und zu sagen: Hören Sie mal, wollen Sie nicht ein Gedicht von mir drucken? Das ist fantastisch. Ich beneide ihn darum, weil ich das nie könnte. Mit dem „Spiegel“ beispielsweise möchte ich nie wieder etwas zu tun haben.
Was haben Sie gegen ihn?
Die machen Hinrichtungsjournalismus und denunzieren. Über mich stand mal, ich sei in Kampen auf Axel Springers Grundstück eingedrungen und hätte dort die Vietcong-Fahne gehisst.
Eine durchaus reizvolle Idee.
Aber es stimmte nicht. Ein Ortsgespräch in Hamburg hätte genügt, um das zu verifizieren. Ich habe ein halbes Dutzend solcher Geschichten mit denen erlebt.
„Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein ist für Sie ein „größenwahnsinniger Zwerg“ und „neureicher Niemand“ gewesen. Das sind wüste Schmähungen.
Er hat das doch alles geduldet. Mir erzählt er zu meiner Marx-Biografie, das sei ein ganz tolles Buch, und dann erscheint ein schöner Verriss in seinem Blatt.
Das spricht für die Unabhängigkeit der Redaktion.
Augsteins Haltung, der Führer weiß von nichts, habe ich ihm nie abgenommen. Selbst vor sexuellen Insinuationen scheuten die nicht zurück. Über eine Tagung der Gruppe 47, wo wir alle schon etwas getrunken hatten und zu dritt tanzten, Grass, seine Frau und ich, hieß es im „Spiegel“: „Raddatz konnte sich leider nicht entscheiden, mit wem von beiden er ins Bett wollte.“ In dem Fall hätte ich es sogar gewusst.
Können Sie nicht gut verzeihen?
Je nachdem. Peter Rühmkorf hat mich in seinem Tagebuch einen Affen genannt, darüber konnte ich lachen, und wir haben uns auch wieder getroffen. Augstein hat mich mal mit seinem Wagen von einem Empfang mitgenommen, weil es dort keine Taxis gab, und als wir vor meiner Wohnung hielten, sagte er, ach, das ist das schöne Haus, in das man nie eingeladen wird. Ich entgegnete, Rudolf, ich muss dich redigieren, wie du besser öfter redigiert würdest. Man wird hier eingeladen, nur du nicht, und dabei bleibt es.
Wie hat er reagiert?
Wir hatten ein langes Gespräch, und da fiel ein Satz, für den man ihn umarmen müsste: „Das Geld hat mich zerstört.“ Ein furchtbarer Satz und ein großer Satz, er zeigte den Rest von Dünnhäutigkeit, den er sich bewahrt hatte. Die große Tragödie dieses so brillanten Kopfes war sein Alkoholismus.
Sie schreiben, Geld verändere den Menschen bis in die Körpersprache. Und nicht zum Guten.
Man sieht es doch oft schon, wenn ein Paar ins Restaurant kommt, dass er die dicke Marie hat. Er bugsiert seine Frau in den Saal, fragt nicht, wo sie sitzen möchte, bestellt als Erster, seine ganze Haltung signalisiert: Hallo, was kostet die Welt!
Haben Sie solche Veränderungen bei Menschen festgestellt, die Ihnen nahe waren?
Jurek Becker habe ich sehr gemocht. Er war ein hochnervöser, amüsanter, frecher, heller Kopf, witzig und schnell im Gespräch. Bei einem Abendessen fragte ich mich: Was ist mit ihm? Er war irgendwie anders, behäbiger in seinen Bewegungen, ein bisschen auch auseinandergelaufen, das Funkelnde war weg. Als er dann erzählte, dass ihm die Drehbücher für die Fernsehserie „Liebling Kreuzberg“ Millionengagen einbringen, klackerte es bei mir.
Sie gelten als außerordentlich eitel …
… und anscheinend bin ich der einzige eitle Mensch auf der Welt, alle anderen sind demütig und bescheiden.
Ihre Eitelkeit, sagt Ihr damaliger Chefredakteur Theo Sommer, hätte der „Zeit“ große Qualitäten beschert, Sie aber auch dazu verlockt, bis an den Rand zu gehen und darüber hinaus.
Das stimmt, ja. Sexualität, Geldgier, Neid und Eitelkeit sind nach meiner Lebenserfahrung die vier wesentlichen Antriebskräfte. Zur Eitelkeit bekenne ich mich, Geld habe ich gerne verdient, aber das war mir keine Lusterfüllung. Neid ist mir völlig fremd, Sexualität gewiss nicht.
Wie auch. „Ich habe mich an seinem wahrlich makellosen Körper delektiert wie an einer köstlichen Speise“, notierten Sie über eine Nacht mit dem Tänzer Rudolf Nurejew.
Ich habe mit beiden Geschlechtern gelebt. Ich kann das übrigens nur empfehlen. Was Sexualität betrifft weiß ich schon, wie die Welt gebaut ist.
Herr Raddatz, als Elfjähriger wurden Sie von Ihrem Vater zum Sex mit Ihrer Stiefmutter gezwungen – „der Moment, der mein ganzes Leben bestimmt und zerstört hat“. Wie ist das zu verstehen?
Es war die Schändung, fast Ermordung eines Kindes. Ich sollte eine sinnliche, ja erotisch gereizte Frau befriedigen! Vielleicht hätte ich ohne das nicht mit beiden Geschlechtern gelebt, sondern wäre ein ganz normaler Familienvater geworden, zwei von mir schwangere Frauen hätten die Kinder bekommen, und ich hätte in irgendeinem Verlag brav als Lektor gearbeitet. Es hat doch zu einer schweren inneren Balancestörung geführt, was man mir damals angetan hat. Doch Verletzungen machen auch produktiv.
Trauern Sie diesem nicht gelebten Leben nach?
Manchmal denke ich, eigentlich schade, vielleicht wäre ich ein guter Vater geworden. Und bisweilen denke ich auch, dass ich besser nach Paris gegangen wäre. Meine bei meiner Geburt verstorbene Mutter war Französin, deshalb bekam ich nach Kriegsende einen französischen Pass. Doch ich blieb in Berlin, weil ich mich gerade unsterblich verliebt hatte und weil ich Teil eines neuen, kulturell offenen Deutschland werden wollte. In Frankreich bin ich als Autor stets mehr geschätzt worden.
Sie wollten ja eigentlich nie „hinterher, wenn die Gäste weg sind, aufschreiben, wie sich Biermann, Grass oder Wunderlich benommen haben“. Und dann haben Sie dennoch Tagebuch geschrieben.
Es müsste ja eigentlich Nachtbuch heißen, denn man schüttet sich dann auf dem Papier aus, wenn der Tag vorbei ist, seine Nöte, Hoffnungen, eine komplizierte Beziehung. Es sind ja viele Liebeserklärungen an Menschen, die ich verehrt habe, wie etwa Paul Wunderlich …
… der im vorigen Jahr verstorbene Maler und Bildhauer kommt tatsächlich gut weg, im Gegensatz zu den meisten anderen.
Das mag an den Leuten liegen und nicht an mir.
Warum Marcel Reich-Ranicki für Raddatz ein „Literaturstalinist“ ist, erfahren Sie auf der nächsten Seite.
Er ist ein gebildeter Vielleser, der die Literatur liebt, aber die Literatur liebt ihn nicht zurück.
Man hört ihn schon grollen: Welch fabelhaften Unsinn der Raddatz erzählt!
An Reich-Ranicki ist die innere Unruhe, die innere Verzweiflung, die den Künstler antreibt, immer vorbeigegangen. Er hat ein Hackebeil oder mindestens einen Hammer, bei ihm heißt es: gut oder schlecht. Doch dann kommt auch Überraschendes: Seine kürzlich in der „FAS“ erschienene Döblin-Glosse habe ich mir aufgehoben.
Ihr Freundeskreis dürfte durch die Veröffentlichung der Tagebücher kleiner geworden sein.
Freunde – das ist ein heikler Plural. Einer, Rolf Hochhuth, hat gelacht über sein Kratz-Porträt: „Du hast mich genau getroffen.“
Grass zum Beispiel halten Sie ebenso eine „Mischung aus verschwiemelter Katholizität und Größenwahnrotz“ vor wie „Rumhurerei“. Das kann ihm nicht gefallen haben.
Man kann von Otto Dix keine Seerosen erwarten. Grass und ich haben keinen Kontakt mehr, über den Grund möchte ich nicht reden. Es ist eine ältere Verletztheit von mir wegen einer Tagebuch-Eintragung von ihm. Ich finde heute mein Verhalten auch nicht mehr in Ordnung, denn über die Rumhurerei habe ich ja bewusst in Gegenwart seiner Frau gesprochen. Das war lange ein charakterlicher Webfehler von mir, zu meinen, ich müsste an den Ehegeschichten meiner Freunde teilnehmen. Ich würde es nicht mehr machen, was geht’s mich an.
Tagebücher sind etwas Intimes. Wenn Thomas Mann etwa notiert: „… zur Nacht, nach einigem Schlaf, masturbiert und zwei Seconal genommen“ – wer muss das wissen?
Ich. Ich habe alle Bände gelesen und keine Zeile ausgelassen. Warum sind Banalitäten wie „Pudel geschoren“, „gestern zur Pediküre“ bei Thomas Mann so wunderbar? Ich finde, sie sind das Unterfutter eines großen Werkes. Selbst seine Masturbationsexerzitien fand ich schön absurd.
Einer Ihrer Hausgötter ist Kurt Tucholsky. Sie haben über ihn geschrieben, sein Werk herausgebracht, waren mit der Witwe befreundet. Was hat Sie so fasziniert an ihm?
Seine Radikalität. Er hat sich den Schneid nicht abkaufen lassen. Für mich ist er ein, wie man in Frankreich sagt, Maître-Penseur gewesen, ein intellektuelles Vorbild. Dieses Gerede, das arme deutsche Volk wird vergewaltigt, das hat er nie durchgehen lassen, er sagte, die Deutschen wollen diesen Führer, sie haben reihenweise Fememorde begangen, sie wollen diesen Nationalismus. Der ganze Lügenquatsch – wir haben nichts gewusst, wir haben einen Juden versteckt – hat die Bundesrepublik vergiftet und geprägt, Sie merken an meiner Emphase, wie mich das bis heute aufregt.
Dieser Lügenquatsch hat viele 68er politisiert.
Deren Impuls war in Ordnung, nur sind sie falschen Illusionen …, halt, falsche Illusionen gibt es nicht, weil Illusionen per se falsch sind, also sie sind falschen Idealen nachgelaufen bis hin zu Mao und Castro. Aber es ist bis dato kein einziger verdammter Nazirichter je verurteilt worden, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.
Sie hatten ab 1953 in verschiedenen Verlagen der DDR und der Bundesrepublik Führungspositionen, waren ein Vierteljahrhundert Ressortleiter oder Autor bei der „Zeit“, haben jede Menge Bücher veröffentlicht. Worauf sind Sie besonders stolz?
Stolz ist nicht das richtige Wort. Ich freue mich, dass zwei Bücher, die noch nicht so lange zurückliegen, die Benn- und die Rilke-Biografie, gut gelungen sind. Im Rilke-Buch wird erstmals dargestellt, auf welch harsche Weise er mit Religion und dem lieben Gott umgeht. Bisher hat man doch immer gedacht, ach, der Rilke, der mit seinen Engelchen und dem ganzen Klingelingeling, das sei ein frommer Mann gewesen. Stimmt überhaupt nicht. Am Ende hat er sich verbeten, dass ein Geistlicher an seinem Sterbebett auftaucht.
Sie haben die ganze Elite der Nachkriegsliteraten getroffen, darunter fast zwei Dutzend Nobelpreisträger. Wer hat Sie am meisten beeindruckt?
Jean-Paul Sartre. Wie er in seiner lässigen Unbekümmertheit im Restaurant saß, die Taschen vollgestopft mit Franc-Scheinen, die andauernd rausfielen, worauf die Beauvoir dann sagte: „ Sie haben schon wieder Geld verloren.“ Die beiden waren ein halbes Jahrhundert lang ein Paar und haben sich immer gesiezt. Er gab zu große Trinkgelder, flirtete ungeniert, war im Gespräch hochkonzentriert und gestand, das fand ich so spannend, die eigenen Irrtümer ein. Etwa im Kommunismus-Streit mit Albert Camus oder in seiner anfänglichen Annäherung an die Sowjetunion. Sartre hat ein eigenartiges intellektuelles Zickzack-Leben geführt, aber er ist nie unlauter gewesen.
Welches Buch halten Sie für das beste, das Sie je gelesen haben?
Kein Zweifel, die „Buddenbrooks“.
Und welchen zeitgenössischen Autor empfehlen Sie?
Ich lese im Moment „Vorabend“ von Peter Kurzeck und bin völlig hingerissen. Er führt sozusagen Uwe Johnson in seiner etwas penetranten Mikroskopie und Grass in seiner barocken Erzähllust zusammen in einen ganz neuen Erzählstrom.
Den Schriftsteller Hubert Fichte haben Sie entdeckt und gefördert. Ein Satz des an Aids Gestorbenen berührt besonders: „ Wir schreiben doch alle nur gegen den Tod.“ Gilt das auch für Sie?
Für alle Künstler. Der große österreichische Bildhauer Alfred Hrdlicka hat mir mal in einem wunderbaren Fernsehgespräch gesagt, alles, was er je gemacht habe, war, um den Tod zu überlisten. „Um ihn zu umarmen.“ Mir sind vor laufender Kamera fast die Tränen gekommen.
Der schwer demente Rhetoriker Walter Jens wollte nicht als der Pflegefall enden, der er heute ist. Machen Sie sich Sorgen, Sie könnten den richtigen Zeitpunkt für den Tod verpassen?
Selbstverständlich. Ich denke mehr denn je, dass ich das einmal selbst in die Hand nehmen sollte.
Martin Walser hat vor, zur Sterbehilfe in die Schweiz zu fahren.
Da muss ich nicht hin. Das kann ich auch hier kriegen.
Schreiben Sie eigentlich weiter Tagebuch?
Ja, bis zur Stunde.
Nächtens am Computer?
Ich habe gar keinen, ich habe kein Handy, keine E-Mails, nichts. Ich schreibe mit der Hand, mit Füller und Tinte. Raten Sie mal, was ich heute Abend über Sie schreibe?
Mehr als drei Stunden Gespräch im Elysee-Hotel Hamburg mit zwei Journalisten, es gab nur Wasser …
… und meinen Aschenbecher haben die Inquisitoren auch nicht geleert. So ungefähr. Und jetzt gehe ich nach Hause und trinke ein Glas Champagner.
Norbert Thomma