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Nah dran. Szene aus Robin Humboldts Dokumentarfilm „Am Kölnberg“, der vier Bewohner eines Kölner Plattenbau-Viertels porträtiert.
© First Steps Award

Nachwuchsfilm: Flüchten, weinen, träumen

Der junge deutsche Film widmet sich Welt- und Familienkrisen. Am Montag werden die First Steps Awards für die besten Nachwuchsfilme vergeben.

Irgendwo in Syrien: Projektile durchschlagen die Fensterscheibe der Wohnung von Mina und ihrem Mann Khaled. Die junge Frau bekommt einen Streifschuss ab, Khaled wird schwer verletzt. Die Schüsse platzen in die intime Szene zu Beginn von Daniel Carsentys Drama „After Spring Comes Fall“. Es folgt ein Horrorfilm: Minas Flucht nach Berlin, Terror und Erpressung durch den syrischen Geheimdienst, ihr Ekel vor sich selbst und der Welt. Fern der Heimat zerbricht eine Frau am Konflikt ihres Landes.

Carsenty ist ausgebildeter Fernsehjournalist. Kürzlich hat er sein Studium an der Filmuniversität Babelsberg abgeschlossen. Die Geschichte um Mina ist sein Abschlussprojekt, er erzählt sie nah und bedrückend. Gleich drei Gewinnchancen hat der 33-Jährige nun bei den First Steps Awards, den wichtigsten deutschen Nachwuchsfilmpreisen, die am Montag wieder am Potsdamer Platz verliehen werden. „After Spring Comes Fall“ ist nominiert als Langspielfilm, für den No-Fear-Award für mutige Nachwuchsproduzenten und für den Michael-Ballhaus-Preis, der an Kameraabsolventen vergeben wird. Carsenty könnte von den insgesamt ausgelobten 92 000 Euro fast die Hälfte einstreichen. Und wenn es – angesichts der starken Konkurrenz – doch nicht ganz so dicke kommen sollte: Überhaupt nominiert zu sein, ist bereits eine Ehre, ein Türöffner für die jungen Talente von den Filmhochschulen.

Friedlicher Moment. Mina (Halima Ilter) und ihr Mann Khaled (Murad Seven) in Daniel Carsentys Syrien-Drama „After Spring Comes Fall“.
Friedlicher Moment. Mina (Halima Ilter) und ihr Mann Khaled (Murad Seven) in Daniel Carsentys Syrien-Drama „After Spring Comes Fall“.
© First Steps

Seit 2000 werden die First Steps Awards vergeben, ins Leben gerufen von Bernd Eichinger und Nico Hofmann, heute ausgerichtet von der Deutschen Filmakademie und einer Handvoll großer privater Medienunternehmen. Längst ist die wichtig, nicht nur wegen der Preisgelder und des Mentorenprogramms für die Gewinner, sondern als Bühne für die Hoffnungsträger im Gewerbe. Die drei besten ausländischen Filme bei den 42. Student Academy Awards sind in diesem Jahr deutsche Produktionen – für die bei den Studenten-Oscars nominierten „Sadakat“ und „Alles wird gut“ stehen auch die Chancen bei den First Steps nicht schlecht.

Flüchtlingsdrama, experimentelle Dokumentation, absurd niedlicher, aber kluger Mädchen-Film – 28 Beiträge sind nominiert. Wobei die düsteren Facetten dominieren. Zentrales Thema ist die Familie. Viele der jungen Filmemacher zeigen die tiefsten Abgründe dieser oft selbstzerstörerischen sozialen Struktur.

Das Konstrukt Familie zerbröselt

Etwa in „Alles wird gut“, einem 30-minütigen Spielfilm aus Österreich von Patrick Vollrath. Da entführt ein geschiedener Vater seine Tochter, weil er Angst hat, dass sie ihm ganz weggenommen wird. Das Mädchen holt Hilfe und rettet ihn durch diesen Verrat. Auf die Erwachsenen, merkt sie, kann man sich nicht verlassen. Da hilft es auch nichts, dass sie immer versichern, dass alles gut werde.

Das Konstrukt Familie zerbröselt, auch in Katja Sambeths „Glutnester“. Nach dem Tod des Vaters hat Jenny auch ihre Mutter verloren, die sich traumatisiert abkapselt. Daran ändert auch ein Umzug an die Ostsee zu den Großeltern nichts. Hier aber wird Jenny Teil einer merkwürdigen Kleinstadtclique aus Grundschülern und Teenies. Gemeinsam hängen sie ab, saufen und rauchen, statt zur Schule zu gehen. In dieser Ersatzfamilie wächst Jenny über sich und ihre Mutter hinaus.

„Familienbruchstück“, ein Dokumentarfilm von Natalie Pfister, Absolventin der Zürcher Hochschule der Künste, seziert die Geschichte einer Trennung, den Zerfall der Familie Hofmann. Dazu hat Pfister Mutter, Vater, Tochter und Sohn einzeln interviewt und das Gesagte monologartig von Schauspielern nachstellen lassen. Für den Film platziert sie die Hofmanns an einem Tisch und zeigt ihnen die Aufnahmen. Die Kamera fängt alle Reaktionen ein, jedes Fingerkneten, jedes beschämte Lachen, jede Träne. Schließlich entspinnt sich ein Gespräch über das, was damals passiert ist – der Film provoziert die Auseinandersetzung nach sieben Jahren Schweigen.

Ohne stilistische Experimente kommt „Am Kölnberg“ aus, der vielleicht stärkste Beitrag unter den nominierten Dokumentationen. Verblüffend, wie nah Robin Humboldt seinen vier Protagonisten aus einem Kölner Plattenbau-Viertel kommt. Über zwei Jahre hat er sie begleitet, war beim ersten Crackpfeifchen des Tages dabei, beim Alkoholentzug, in der Schlange an der Tafel, beim Träumen von einer besseren Realität. Obwohl der Film glasklaren Voyeurismus betreibt, ist da immer die Zuneigung Humboldts zu den Menschen zu spüren, ohne dass es je kitschig oder mitleidig wird. Berührend und rau ist dieser Film, überraschend und lehrreich – ein gutes Zeichen für den jungen deutschen Film.
Die nominierten Filme „Roadtrip“ und „Streichelzoo“ laufen am 16.9. um 20 Uhr im Filmkunst 66 (Bleibtreustr. 12, Charlottenburg).

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