Regisseur Christian Petzold: „Flucht ist der Normalzustand“
Für „Barbara“ gewann er den Silbernen Bären, jetzt präsentiert Christian Petzold seine Seghers-Adaption „Transit“ im Berlinale-Wettbewerb. Ein Gespräch.
Herr Petzold, wie kamen Sie auf Anna Seghers und ihren Roman „Transit“?
In den 70er Jahren stieß ich auf ihre Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“. Ich war damals großer Wolfgang-Neuss-Fan; auf seiner Platte mit Wolf Biermann geht es erst um die Geschichte der deutschen Lyrik, und nach der Zeile „Ist unser Volk der Reimerchen seit Gottfried Benn im Eimerchen?“ macht sich Neuss über Anna Seghers lustig. Deshalb dachte ich, Seghers muss schrecklich sein. Aber dann las ich die Erzählung, schon wegen des tollen Titels. Eine unglaubliche Geschichte. Kurz darauf lernte ich Harun Farocki kennen ....
... mit dem Sie viele Jahre gemeinsam Ihre Drehbücher verfassten ...,
... der gab mir den Roman. Ich las damals fast ausschließlich amerikanische Literatur und dachte, das gibt’s doch nicht. Das ist ja wie Charles Willeford, Jim Thompson oder Hemingway. Ein Ich-Erzähler, der sagt, ich erzähl’ dir mal was, wie an der Theke oder am Hafen, die Geschichte von deutschen Emigranten in Marseille spielt ja in einer Hafenstadt. „Transit“ hat etwas mit all den Geschichten zu tun, die Harun und ich vorher im Kino erzählt hatten.
Geschichten über Verlorene?
Über Leute, die die Heimat suchen und deren Traurigkeit daher rührt, dass sie glauben, sie hätten eine Heimat. Am Schluss von John Hustons „Asphalt Jungle“ geht der blutende, sterbende Sterling Hayden auf eine Pferdewiese und der Zuschauer erfährt, dass er als Kind auf einer Ranch gelebt hat. Die Banken haben die Farmen kaputt gemacht. Das ist ein realer Heimatverlust. Bei Anna Seghers gibt es den nicht. Die Herkunft ist höchstens Thema, wenn der Erzähler sich erinnert, wie die Mutter ein Lied für ihn gesungen hat. Aber er kann nicht dorthin zurück.
Wie kommt es, dass Sie immer wieder Filme über Heimatlose machen, über die Unsichtbaren, von „Innere Sicherheit“ über „Gespenster“ bis „Phoenix“?
Vielleicht hat es damit zu tun, dass wir beide, Farocki und ich, Flüchtlingskinder sind. Unsichere Identitäten sind die Grundlage des Kinos. Sie sind noch im Werden, durchsichtig, flüchtig, suchen sich noch. Das Kino ist selber ein Transitraum. Sonst wird es „Lindenstraße“.
Von Heimat ist viel die Rede in diesen Tagen. Sie sagen, es gibt sie gar nicht?
Die Flucht ist der Normalzustand. Davon handelt „Transit“. Das Buch macht klar: Alle Ideologien sind falsch, die sagen, es gibt eine feste Identität, einen festen Ort. Unsere kleine Stadt, die es zu verteidigen gilt, das führt immer zu Problemen. In „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ endet es damit, dass man mit einer abgesägten Schrotflinte losfährt und über Blutrache nachdenkt. „Transit“ ist ein unglaublich tröstendes Buch – über den Transitraum als dem Ort, an dem die eigentlichen Geschichten und Identitäten angesiedelt sind. Ein Raum, der sonst gerade kein Erzählraum ist. Wir hören den Flüchtlingen nicht zu.
Sie meinen die heutigen Flüchtlinge?
Ich spiele ein, zwei Mal die Woche Badminton in einer Halle am Columbiadamm gegenüber vom Flughafen Tempelhof, wo zwei Jahre lang 3000 Flüchtlinge untergebracht waren. Wir erfahren ihre Geschichten nicht, ich habe sie nicht einmal gesehen. Wir machen diese Menschen unsichtbar, indem wir sie nicht wahrnehmen. Die Flüchtlinge heute waren ein wichtiger Auslöser für „Transit“. Wir hatten mit dem Buch zwar schon vorher angefangen, aber als historischer Film. Wobei ich nach „Phoenix“ eigentlich keine Lust mehr auf Kostümfilm hatte. Die Welt nachzubauen, kostet unglaublich viel Kraft. Allein die Männer mit den gezwirbelten Bärten und den Werbeslogans „Bares für Rares“, die alte Autos vermieten, ich wollte das nicht mehr. Außerdem: Jeder Film ist Gegenwart. Es ist nicht Aufgabe der Kunst, so wie damals zu sein, sondern die eigene Lektüre, die eigene Wahrnehmung ins Bild zu setzen.
Das heißt in Bezug auf „Transit“?
Wir hatten beide das Gefühl, es stimmt etwas nicht. Dann starb Harun unerwartet im Juli 2014, ich brauchte erst mal Zeit. Ich drehte einen „Polizeiruf“ und fuhr mit meinem Sohn nach Amerika, dort schrieb ich weiter. In der Wüste war es so heiß, dass mir die Festplatte meines Laptops wegbrannte. Die Daten waren nicht zu retten, ich hatte kein Back-up. Die Leute im Computershop dachten, ich bräuchte den Notarzt, aber das Gegenteil war der Fall. Ich war erleichtert.
Weil Sie neu anfangen konnten?
Mit einem Mal wusste ich, ich will keinen Roman verfilmen, sondern herausfinden, warum ich das lese. Hat es biografische Gründe, die sudetendeutsche Mutter, die vergewaltigte Oma, die Benes-Dekrete, die SS-Vergangenheit des Großvaters? Geht es um das, was in Deutschland nicht erzählt wird? Harun und ich hatten viel über Hoyerswerda, Mölln, die Figur des Flüchtlings nachgedacht. Ich stellte es mir bildlich vor: Ein Mann in Südfrankreich vor der Botschaft heute, er sagt: Ihr müsst mir helfen, die Nazis sind hinter mir her. Es kam mir nicht befremdlich vor. Man braucht „Nazis“ nur durch „Faschisten“ zu ersetzen, weil es den Rechtsradikalismus in Europa besser fasst.
„Berlin ist nicht nur Easyjet, sondern ein Gemeinwesen“
Sie siedeln den Roman im heutigen Marseille an, ohne zu „aktualisieren“? Weil Sie ein anderes Geschichtskino wollen, was meinen Sie damit?
Das Nicht-Pädagogische. Im Fernsehen muss Maria Furtwängler als Heldin von „Die Flucht“ hinterher in der Talkshow darüber reden. Nicht über ihre Erfahrung als Schauspielerin, sondern so, als ob sie selber auf der Flucht gewesen wäre. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, Robert De Niro nach „The Deer Hunter“ zu fragen, wie es sich als Vietnam-Heimkehrer lebt. So ein Verständnis von Film und Schauspiel macht mich fertig. Das Kino ist viel widerständiger! Es war schon immer der Ort, wo der Staat, die Propaganda sich nicht ganz durchsetzen konnten. Bei John Ford werden Tausende von Indianern umgebracht, dabei hat man nie das Gefühl, dass seine Filme rassistisch sind. Weil die Schuld mitschwingt, das Leid der Opfer, die Komplexität der Geschichte.
Sie sagen, wir hören die Geschichten der Flüchtlinge nicht. Ist Ihr Film eine davon?
Alle im Film wollen ihre Geschichte erzählen. Das Kino hat mehr mit Oral History zu tun, als wir wahrhaben wollen. Ich wollte schon immer mit Voice-over arbeiten, auch wenn Voice-over verunglimpft ist. Ich hab’s jetzt gemacht, es ist die Stimme von Matthias Brandt.
Ein Petzold-Film mit Voice-over? Und mit neuen Hauptdarstellern, Paula Beer, Franz Rogowski, wie kommt’s?
Paula Beer sagte auch, der Film sei anders als meine anderen. Ich denke, ich habe vorher Laborfilme gemacht, eine Situation konstruiert und geschaut, was mit den Figuren geschieht. Mit Empathie, aber ich wollte sie nicht stark zeigen. In „Barbara“ ließ ich schon etwas Trost zu, aber auch das war ein Versuchsaufbau. DDR 1980, hier die Frau, die in den Westen will, da Ronald Zehrfeld, der bleibt und versucht, Gutes zu tun. Kunst ist Konstruktion, Komposition, aber bei „Transit“ hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, es ist kein Labor, die Erzählungen überlagern sich, die machen sich hier alle selbstständig, wie in den Stücken von Tschechow. Und sie sagen, nein, wir steigen nicht aufs Schiff, wir bleiben lieber hier, im Transitraum.
Marie, Paula Beer, ist im Roman die geheimnisvolle Frau, derer man nicht habhaft wird. Alle Männer wollen sie retten. Eigentlich ein stereotypes Frauenbild.
Anmut, Schönheit und Grazie kommen aus der Intelligenz. Seit ich Filme drehe, frage ich mich: Warum ist meine Hauptfigur wieder eine Frau, welches Verhältnis habe ich zu ihr? Ich drehe nicht im Bademantel, wir arbeiten zusammen, Täter-Opfer-Strukturen haben da nichts zu suchen. „Transit“ ist der Roman einer Frau, mit einem Mann als Ich-Erzähler und zwei Kategorien von Frauen. Die, mit denen der Held Sex hat, und Marie, die Körperlose mit dem christlichen Namen, die Heilige. Paula Beer fand es merkwürdig, dass eine Autorin eine weibliche Figur so beschreibt. Sie wollte keine Erscheinung sein, wollte einen Körper, eine Erzählung. Dank Paula Beer ist die Figur aus dem Klischee ausgetreten.
Und Franz Rogowski?
Er kommt über den Tanz, hat einen Rhythmus, eine große Körperlichkeit und Empathie, die sich aus Lebenserfahrung speist. Auch er ist ungeheuer klug – und anmutig. Er sucht nicht seinen Text, er sucht seine Situation. Alle Schauspieler in „Transit“ zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich nicht selber in Szene setzen, sondern die Situation ergründen wollen. Diese Art zu spielen, gibt es in Deutschland leider viel zu selten.
Sie haben den Brief unterzeichnet, der eine Debatte über die Berlinale und Dieter Kosslick auslöste. Eine gute Debatte?
Als die Aufregung losging, war ich gerade in Paris. Es ist immer gut, nicht in Deutschland zu sein, wenn’s besonders deutsch wird. Unser Appell wurde personifiziert und zur Abrechnung mit Dieter Kosslick gemacht. Dabei hatte er damit überhaupt nichts zu tun.
Im Brief steht, das Festival solle programmatisch erneuert und entschlackt werden. Das soll keine Kritik sein?
Die Finanzierung der Berlinale hängt erheblich von den Ticketverkäufen ab, von der Vielzahl der Filme. Das heißt, der Bund müsste mehr Geld bereitstellen, damit das Festival unabhängiger wird.
Und es soll weniger Publikum kommen?
Nein, das meine ich nicht. Ich habe den Eindruck, dass die Reihen nicht klar profiliert und kuratiert sind. Eine Sektion wie das Panorama kommt mir manchmal vor wie das unüberschaubare Angebot von Netflix. Noch etwas: Ich finde es ein Unding, dass das Publikumsfestival Berlinale viele Filme nur englisch und nicht auch deutsch untertitelt. Berlin ist nicht nur Easyjet und international, sondern ein Gemeinwesen. Das hat jetzt nichts mit Heimatministerium zu tun, sondern mit dem Verständnis von Stadt. Einer Stadt, in der ein zentraler Platz, der Potsdamer Platz, jedes Jahr von der Berlinale zum Leben erweckt wird.