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Kulisse als Hauptdarsteller. Martin Schülers „Fidelio“-Inszenierung vor dem früheren Gefängnis.
© Marlies Kross/Staatstheater Cottbus

Beethovens "Fidelio" in ehemaligem Stasi-Gefängnis: Flieg, Gedanke

Ehemalige Insassen des Cottbuser Stasi-Gefängnisses feiern ein Freiheits- und Demokratiefest – mit Ludwig van Beethovens Oper „Fidelio“.

Als die Trillerpfeife ertönt, sprinten sie aus allen Richtungen heran, formieren sich zu Viererreihen. Der Hauptmann brüllt einen Befehl, die Truppe setzt sich in Bewegung, schwere Stiefel knallen auf Betonboden, es müssen an die 200 sein.

Der Marsch aus dem 1. Akt des „Fidelio“ hat normalerweise etwas Putziges, Zinnsoldatenhaftes. Die Geigenmelodie ist zu lieblich, für das, was sich hier abspielt, zwischendurch dudeln die Holzbläser geradezu volksmusikantisch. In Martin Schülers Inszenierung von Beethovens Freiheitsoper aber entfaltet diese Musik in Cottbus jetzt tatsächlich düstere Wucht. Weil diese Aufführung am authentischen Ort stattfindet, im Innenhof eines ehemaligen Zuchthauses.

Die kargen Backsteinbauten stammen aus dem Jahr 1860, der Komplex liegt in einem ruhigen Wohngebiet. Zu DDR-Zeiten war er auf keinem Stadtplan verzeichnet – denn hier wurden Menschen eingesperrt, die sich der „staatsfeindlichen Hetze“ schuldig gemacht hatten oder des „ungesetzlichen Grenzübertritts“. 20 000 Personen saßen bis 1989 hier ein, 80 Prozent von ihnen waren politische Gefangene. Der Cottbuser Knast wurde von der SED-Führung als Devisenbeschaffungsanstalt genutzt. Vor allem Akademiker wurden vom Westen freigekauft, insgesamt kassierte der Arbeiter- und Bauernstaat mit dieser Art des Menschenhandels fast 3,5 Milliarden D-Mark.

Nach der Wende wurde der Komplex als Gefängnis weiter genutzt, bis 2002. Dann ließ man die alten Gebäude verfallen. Dem wollten viele ehemalige Insassen nicht tatenlos zusehen: 2007 formieren sie sich zum Verein, im Jahr darauf können sie das 22 000 Quadratmeter große Gelände erwerben. Seitdem bauen sie es zur Gedenkstätte aus.

"Fidelio" als Höhepunkt des Freiheits- und Demokratiefestes

Wer durch die Ausstellungsräume im Zellentrakt geht, wird unmittelbar berührt von den Leidensgeschichten, die sich hier abgespielt haben. Anhand von Biografien wird die Geschichte des Ortes erzählt. Wegen Nichtigkeiten konnte man hier landen, musste mit bis zu 40 Personen in einem Raum schlafen und für den VEB Pentacon schuften, Gehäuse für die „Praktica“-Kameras herstellen, die dann bei Quelle verkauft wurden.

Doch die Vereinsmitglieder schauen nicht nur rückwärts. Bewusst nennen sie sich „Menschenrechtszentrum Cottbus“, wollen auf Verstöße gegen die Grundrechte aufmerksam machen. Zum Beispiel auf Kuba. Bevor am Samstag die „Fidelio“-Vorstellung losgeht, als Höhepunkt eines Freiheits- und Demokratiefestes im Gedenken an die friedliche DDR-Revolution vor 25 Jahren, holt Gedenkstättenleiterin Sylvia Wähling zwei „Damas de Blanco“ auf die Bühne. Seit elf Jahren kämpfen diese „Frauen in Weiß“ um die Freilassung ihrer inhaftierten Söhne und Ehemänner, indem sie an jedem Sonntag eine Messe besuchen und anschließend schweigend durch Havannas Straßen ziehen, mit einer Gladiole in der Hand, dem kubanischen Symbol der Familie.

Überdeutlich sind die Parallelen zu Beethovens „Fidelio“, in dem es um eine Ehefrau geht, die Männerkleider anzieht und sich als Aufseher anstellen lässt – in der Hoffnung, so ihren Gatten retten zu können, der auf Befehl eines korrupten Gouverneurs im Verlies schmachtet.

Kulturstaatsministerin Monika Grütters überreicht den Kubanerinnen den Erlös einer Solidaritätsaktion, und Dieter Dombrowski, ehemaliger Insasse und Vorsitzender des Menschenrechtszentrums, erzählt vom Gesangsverbot innerhalb der Cottbuser Gefängnismauern: Selbst wer zu Weihnachten leise für sich in der Zelle Lieder anstimmte, wurde mit Arrest bestraft.

Die Kulisse als Hauptdarsteller.

Es ist jetzt fast halb zehn Uhr abends, das Wetter hat sich zum Glück beruhigt, von den Stühlen und Notenpulten der Musiker können die Plastikplanen abgenommen werden. Schlank und flexibel wird das Philharmonische Orchester des Staatstheaters Cottbus gleich durch die erstaunlich klangtreue Lautsprecheranlage tönen. Der junge amerikanische Chefdirigent Evan Christ favorisiert einen klassizistischen, an den Idealen der historischen Aufführungspraxis orientierten Beethoven-Sound.

Damit betont er das Spielopernhafte dieser Partitur, die ja ein merkwürdiger Zwitter ist: Bevor es zum Ketten sprengenden Sieg unerschütterlicher Gattentreue kommt, geht es erst einmal sehr ausführlich um kleinbürgerliche Lebensentwürfe. Marzelline, die Tochter des Kerkermeisters Rocco, will unbedingt Fidelio heiraten, von dem nur das Publikum weiß, dass es sich hier um eine Frau handelt. Ihr Vater ist einverstanden, der abservierte Verlobte Jaquino tobt.

Martin Schüler inszeniert dieses amouröse Hin und Her mit filmrealistischer Detailverliebtheit. Auf der weiten Spielfläche, die sich U-förmig rund ums Orchester erhebt, gibt es linker Hand einen Kleingarten mit Liegestuhl und echtem Rasen, rechts eine Waschküche, in der Cornelia Zink als Marzelline hingebungsvoll Wäsche bügelt, während sie von der Liebe singt (Bühne: Hans-Holger Schmidt).

Bis auf Craig Berminham als Florestan und Miriam Gordon-Stewart als Titelheldin kann Martin Schüler alle Rollen aus seiner hauseigenen, dank intensiver Ensemblepflege bestens aufgestellten Sängertruppe besetzen. Einer Truppe, die ganz auf seinen Stil eingeschworen ist: Nämlich Oper so zu erzählen, dass Erstbesucher die Geschichte sofort verstehen, Kenner der Stücke aber immer etwas finden, was sie so noch nicht gesehen haben.

Freiheitsmusik in der Gefängniskulisse

Klug hütet sich der Regisseur davor, naheliegende Assoziationen szenisch umzusetzen: Sein Gefangenenchor – in dem auch vier ehemalige Häftlinge mitsingen – trägt nicht die graue Anstaltskleidung aus DDR-Zeiten mit den gelben Streifen, die jeden eventuellen Flüchtling sofort als „Politischen“ kenntlich machen sollten. Kostümbildnerin Nicole Lorenz zieht ihnen helle Kleidung an. Und wenn die berühmte Stelle kommt „Sprecht leise, haltet euch zurück, wir sind belauscht mit Ohr und Blick“, dann sieht man keine Stasi-Schergen umherschleichen, sondern Leonore, die durch die Reihen geht, auf der verzweifelten Suche nach ihrem Florestan.

Der stärkste Darsteller an diesem Abend aber ist das Gefängnisgelände selber. Von der Tribüne aus blicken die 1000 Zuschauer direkt auf die vergitterten Fenster des Zellenblocks. Da beginnt der Kopf von ganz alleine, Beethovens idealistische Freiheitsmusik mit der real existierenden Vergangenheit zu verknüpfen.

Weitere Aufführungen: 2., 4., 5., 9. und 11. Juli, 21 Uhr.

Frederik Hanssen

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