Philosophie: Das Unbehagen der Vielen
Der Philosoph Axel Honneth, Leiter des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt, spricht über die gebrochenen Versprechen des Marktes und die skandalösen Thesen von Peter Sloterdijk.
Herr Honneth, mit der Kluft zwischen Arm und Reich wächst auch wieder das Interesse an der Kritischen Theorie. An welche Thesen der Frankfurter Schule lässt sich denn noch anknüpfen?
Ich muss zunächst sagen, dass es um die ursprüngliche Gestalt dieser Sozialphilosophie gar nicht gut steht. Für Max Horkheimer war zum Beispiel die Vorstellung leitend, dass wir die vernünftige Einrichtung der Gesellschaft allein von einer angemessenen Organisation der Arbeitsverhältnisse erwarten dürfen. Dieser Gedanke findet sich schon bei Marx, aber uns ist er fremd geworden.
Was macht heute noch die Kritische Theorie aus?
Aus meiner Sicht ist das die Überzeugung, dass die Vernunft, auf die wir uns stützen, wenn wir gesellschaftliche Verhältnisse kritisieren, diesen bereits immanent sein muss – als ein Versprechen!
Halten Sie deshalb bei Ihrer Gesellschaftskritik an der sogenannten immanenten Transzendenz fest?
Ja, das heißt ja nichts anderes, als dass es in unseren gesellschaftlichen Verhältnissen Ansprüche und Ziele gibt, die über die Gegenwart hinausweisen. Man kann beispielsweise zeigen, dass der ökonomische Markt auf Versprechen basiert, durch die er bei seiner Einführung überhaupt erst zustimmungsfähig wurde. Für die klassische Nationalökonomie war der Gedanke noch selbstverständlich, dass der Markt auch ein Versprechen größerer Freiheit ist – als Medium einer Kooperation, die allen Teilnehmern die Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Interessen ermöglicht. Dasselbe lässt sich auch mit dem Modell wechselseitiger Anerkennung beschreiben.
Das ist Ihr Maßstab im Sinn einer moralischen Kategorie zur Kritik der Gesellschaft: Wo unser Recht auf Anerkennung verletzt wird, ist der Verdacht einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung berechtigt.
Tatsache ist, dass der Markt heute das Versprechen einer gelingenden Interaktion seiner Teilnehmer dauernd bricht. Mir scheint es deshalb angebracht, sich auf seine Grundprinzipien zu besinnen. Sie waren im 19. und 20. Jahrhundert Ziele der Arbeiterbewegung. Bei diesen Kämpfen ging es darum, den Markt so einzuhegen, dass er sein ursprüngliches Versprechen erfüllt. Allerdings wird dieser Anspruch gegenwärtig von den Beteiligten weitgehend ignoriert. Dieses Desinteresse, dieser Mangel an Empörung und Widerstand, ist ein erstaunliches und soziologisch noch zu klärendes Phänomen.
Gibt es nicht, zugespitzt gesagt, nur noch angepasste Menschen, die ihre Selbstausbeutung freiwillig betreiben?
Das glaube ich nicht. Dann endet man nämlich genau dort, wo schon Marcuse mit seiner „eindimensionalen“ Gesellschaft enden musste. Womit ja gesagt wird, dass es keine Spannung mehr gibt, weil die Ansprüche der Menschen an die Gesellschaft mit deren Angeboten und Verhaltenszumutungen identisch sind.
Damit wäre aber die mangelnde Empörung erklärt. Auch der fehlende Leidensdruck, den Sie als Motiv eines politischen Kampfes vermissen. Bei einem Burnout leidet nur noch der Einzelne.
Das ist jetzt eine empirische Frage: Ist der Markt nur ein Medium individueller Nutzenmaximierung, und hat sich diese Deutung so durchgesetzt, dass die Menschen ihr zustimmen? Ich würde das glatt bezweifeln. Unsichere Arbeitsverträge, unsichere Zukunftsaussichten, höhere Arbeitsbelastung und enorme Prekarisierung – ich gehe von einem großen Unbehagen aus. Nur ist das tatsächlich individualisiert. Die Frau, die im Callcenter eine so belastende Arbeit verrichtet, dass sie kaum noch ihr Privatleben damit vereinbaren kann – die ist nicht organisiert. Sie äußert ihren Protest vielleicht im Austausch mit Kolleginnen. An die Öffentlichkeit dringt davon nichts.
In einem Aufsatz sind Sie der scheinbaren Zufriedenheit nachgegangen und stellen die Frage, ob nicht auch die Kategorie der wechselseitigen Anerkennung nur noch ideologisch verwendet wird.
Diese Skepsis ist geboten. Und bei der Anerkennung ist die bloß ideologische Verwendung offensichtlich. Die Rede vom Arbeitskraftunternehmer zum Beispiel suggeriert, dass derjenige, der früher Arbeitnehmer hieß, inzwischen sein eigener Unternehmer ist – das ist eine ideologische Konstruktion. Weil demjenigen, der über diesen Status verfügen soll, jede materielle Voraussetzung fehlt, um Unternehmer zu sein.
Das Geld wird für Sie also zu einem handfesten Unterscheidungskriterium...
... um Anerkennung ernst nehmen zu können, so dass man sich tatsächlich gesellschaftskritisch auf diesen Maßstab stützen kann. Sonst handelt es sich um eine bloße Floskel oder psychologischen Kitt zur Sozialintegration.
Wer sollte über derartige Differenzen aufklären? Der Gesellschaftskritiker? Oder derjenige, den Sie den „normalisierten Intellektuellen“ nennen?
Der „NZZ“-Essay, auf den Sie anspielen, war eine Reaktion auf die endlosen Debatten über den Untergang des Intellektuellen. Der stirbt ja seit gut 30 Jahren zwar nicht in Frankreich, aber in Deutschland immer wieder einmal aus. Das ist eine Pseudodebatte. Man muss nur einen Blick in unsere Tageszeitungen werfen: Wir hatten noch nie so viele politische, wissenschaftliche und kulturelle Stellungnahmen wie heute. Deshalb behaupte ich, dass sich die Rolle des Intellektuellen normalisiert hat. Von dieser Alltagspraxis auf der Basis eines akzeptierten gesellschaftlichen Zusammenlebens unterscheide ich die Arbeit des Gesellschaftskritikers. Der geht einen Schritt weiter, indem er diese Basis als Gegenstand der Kritik einbezieht.
Würde dieser Anspruch zu Peter Sloterdijks Vorschlag passen, die Reichen von Steuern zu entlasten, um statt dessen auf freiwillige Abgaben zu setzen?
Die mit dem Steuerstaat verknüpfte Idee sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung halte ich nicht für einen Mythos, sondern für ein bewährtes, wenn auch sicher noch nicht hinreichend praktiziertes Prinzip moderner Gesellschaften. Dahinter steht die Einsicht, dass der Reichtum, über den einige Wenige verfügen, sich nicht nur den Anstrengungen dieser Wenigen verdankt, sondern gesellschaftlicher Vorleistungen und einem kulturellen Milieu, für das wir alle zuständig sind. Sloterdijk begibt sich in den Horizont eines finsteren rechten Denkens, wenn er glaubt, das als einen Mythos kritisieren zu können.
Es war Ihnen wichtig, seinen Vorschlag öffentlich zu kritisieren?
Ja, dieser Gedanke einer „Revolution der gebenden Hand“ hat so absurde Züge einer Rückkehr in den Feudalismus, dass ich entsetzt war! Auch darüber, dass keiner etwas sagte gegen diesen Artikel, sondern dass der so hingenommen wurde, als handle es sich nicht um einen reaktionären Aufruf zur Zerstörung eines der wenigen Grundprinzipien unserer Gesellschaft, die bisher niemals infrage gestellt worden waren.
Inzwischen hat Ihr Einspruch eine heftige Debatte ausgelöst.
Aber zum Glück ist dieser Aufruf verpufft! Es gibt offenbar bei denen, die hohe Steuern zahlen, weil sie ein hohes Einkommen oder großes Vermögen haben, keine Zustimmung. Das heißt, es gibt noch eine gewisse Bereitschaft für Umverteilung. Das hat etwas Beruhigendes.
Das Gespräch führte Angelika Brauer.
Axel Honneth, 1949 in Essen geboren, ist der bekannteste Schüler von Jürgen Habermas. Der Philosoph leitet das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Mit "Das Recht der Freiheit" (Suhrkamp Verlag) hat er das in Deutschland meistdiskutierte philosophische Werk des letzten Jahres vorgelegt (Tagesspiegel vom 30.7.2011). Das Buch entwirft eine Theorie der Gerechtigkeit, die von der Analyse gesellschaftlicher Institutionen ausgeht. Die Freiheit, für die Honneth dabei plädiert, ist nicht diejenige individueller Selbstbestimmung, sondern eine, die sich im Medium wechselseitiger Anerkennung vollzieht.
Am Donnerstag, den 2. Februar, um 18 Uhr stellt Honneth im Audimax der Humboldt-Universität (Unter den Linden 6) seine Thesen zur Diskussion. Mit Honneth sitzen auf dem Podium: die Historikerin Ute Frevert, der Soziologe Heiner Ganßmann und der Rechtsphilosoph Christoph Möllers.
Angelika Brauer
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