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„Marie Jordan naakt op de rug gezien“, ein Akt von George Hendrik Breitner (1890).
© Rijksmuseum, Amsterdam

Fotografie-Ausstellung im Rijksmuseum: Ewigkeit des Augenblicks

Eine Kunst, erfunden für die Wissenschaft: Das Amsterdamer Rijksmuseum zeigt Fotografien des 19. Jahrhunderts.

Wie bei so ziemlich jeder Erfindung war auch bei der der Fotografie nicht absehbar, wohin sie führen würde. Unsicherheit überschattete ihre ersten Jahre nach der öffentlichen Präsentation der Entdeckung 1839 in Paris. Zu aufwändig, zu teuer, vor allem aber zu unhandlich – das waren die Vorbehalte gegen den massenhaften Gebrauch der Fotografie. Doch einmal ausgeübt, arbeiteten zahllose Erfinder und Ingenieure an ihrer Vervollkommnung. Die Wege verliefen, wie bei allen Erfindungen von welthistorischer Bedeutung, aber nicht noch ohne Abschweifung. So nutzte die Biologin Anna Atkins für ihr monumentales Werk über Algen, das sie 1853 vorstellte, die ursprüngliche Technik, die der Neologismus „Photographie“ meint: mit Licht zeichnen. Auf lichtempfindliches Papier legte sie ihre „British Algae“ und hielt so dieVielfalt ihrer Strukturen fest.

Ausgerechnet Algen. Im Amsterdamer Rijksmuseum ist der gesamte erste Raum der Ausstellung „Neue Realitäten. Fotografie im 19. Jahrhundert“ mit  Seiten aus Atkins Band gefüllt, dem allerersten fotografisch illustrierten Buch überhaupt. Das Buch, eine Rarität schon bei Erscheinen – denn die blauen Belichtungen mussten einzeln hergestellt und individuell gebunden werden– ist die stolze Neuerwerbung des Museums. Es bietet zugleich ein Aha-Erlebnis zum Verständnis der Fotografie. Das Algen-Panorama erinnert daran, dass die Fotografie eine wissenschaftliche Errungenschaft war und zu wissenschaftlichen Zwecken Verwendung fand. Doch das zugrundeliegende Prinzip als solches leuchtete unmittelbar ein und wies den Weg zum Massenmedium – nämlich das Bild, das das menschliche Auge im wortwörtlichen Augenblick sieht, festzuhalten. Für immer.

Mit diesem „immer“ tun wir uns heute noch schwer. Fotografien, die einst auf Papier vergilbten, schwinden nun eben in ihrer digitalen Form. Aber die bloße Möglichkeit hat das Sehen grundstürzend verändert. Die Kamerafunktion des Smartphones, ein weiterer Entwicklungssprung, lässt das augenblicklich Gesehene mehr und mehr als künftiges Foto wahrnehmen: Was wir sehen, ist vor unseren Augen immer schon Fotografie.

Erst seit 1994 sammelt das Rijksmuseum Fotografie

In der Frühzeit verhielt es sich insofern ähnlich, als das, was die Fotografie zeigte, eine für eben die Fotografie zugerichtete Wirklichkeit war. Die langen Belichtungszeiten bei günstiger Helligkeit, aber auch die Besonderheit eines seine wuchtige Plattenkamera aufbauenden Fotografen brachten es mit sich, dass die Menschen des 19. Jahrhunderts sich in Positur werfen, in Szene setzen oder in ehrfürchtigem Abstand aufreihen.

Erst seit 1994 sammelt das Rijksmuseum systematisch Fotografie. Aber was es in diesen kaum mehr als zwei Jahrzehnten zusammengetragen hat, ist grandios – freilich mit Unterstützung staatlicher Stellen, die anderswo gelagerte Bestände, die ursprünglich der Dokumentation dienten und überhaupt nicht in ihrem fotografischen Eigenwert erkannt wurden, ans Museum überwiesen. Großartige Privatsammlungen kamen hinzu und unterstreichen den Charakter des Hauses als Bürgereinrichtung.

 Eine Algenstudie von Anna Atkins (cirka 1843 bis 1853).
Eine Algenstudie von Anna Atkins (cirka 1843 bis 1853).
© Rijksmuseum, Amsterdam

Den Blaualgen folgt der thematische Raum „Portraits“. Das Bildnis wurde zum Hauptthema der Fotografie, weil buchstäblich jedermann sich ablichten, sich „verewigen“ lassen konnte. Im Bürgertum pflegte man die carte de visite, die mit dem eigenen Abbild gezierte Karte, die man beim Besuch vorlegte. Wie praktisch. Daneben stehen die aufwendigen „Daguerrotypien“, benannt nach ihrem Erfinder Daguerre – von dem sie der französische Staat 1839 zur Nutzung durch jedermann erwarb –, die in Amsterdam ohne die beinahe unvermeidlichen Lichtreflexe des Bildträgers, einer versilberten Kupferplatte, gezeigt werden. Auch dies, die Qualität der Präsentation, zeichnet die Amsterdamer Ausstellung aus.

Familien stellen sich im Sonntagsstaat auf, Kinder müssen stillhalten, selbst Verstorbene werden abgebildet. Die Fotografie imitiert die Malerei und entdeckt erotische oder zumindest anspielungsreiche Motive. Roger Fenton, ein Fotopionier, schleppt seine Ausrüstung 1855 auf die Schauplätze des Krimkriegs und ist nicht nur einer der ersten Reporter, sondern auch ein Porträtist der Offiziere.

Menschengemachte Erzeugnisse, die auf Dauer angelegt sind

Frankreich mit seinem im 19. Jahrhundert enorm anwachsenden Bewusstsein des patrimoine, des nationalen Erbes, setzt stark auf Dokumentation von Städten und Bauwerken, so bereits Charles Nègre oder Charles Marville. Bald wird die Dokumentation staatlicher Bauvorhaben in vielen Ländern selbstverständlich. Maxime du Camp und Gustave Le Gray tragen die Reisefotografie in die noch schwer zugänglichen Länder des östlichen Mittelmeerraumes und nach Nordafrika. Von Le Gray, mit den vorangehenden Seebildern aus meist zwei übereinander gelegten Negativen einer der großartigsten Bildschöpfer seiner Zeit, besitzt das Rijksmuseum das Rarissimum eines Abzugs des Panoramas von Baalbek von 1860.

Die Fotografie des 19. Jahrhunderts fasziniert, weil sie immer dieses Element des Aufwandes, des eigens Hergestellten in sich trägt. Wir sehen Menschen, die ihrer Alltagsexistenz einen Hauch von Ewigkeit verleihen wollen, wir sehen menschengemachte Erzeugnisse, die auf Dauer angelegt sind. Wir erkennen, in die Bilder eingeschrieben, eine gesellschaftliche Ordnung, die gewiss nicht allen Menschen Glück und schon gar nicht gleichen Anteil verheißt, wohl aber die Sicherheit des Bleibenden und Berechenbaren. Jedenfalls für den Augenblick, in dem sie fotografische Realität wird.

Porträt von Charlotte Asser, der Tochter des Fotografen Eduard Isaac Asser (1842).
Porträt von Charlotte Asser, der Tochter des Fotografen Eduard Isaac Asser (1842).
© Rijksmuseum, Amsterdam

Sensationen kommen hinzu, Unglücksfälle, Reportagen aus Elendsvierteln, Kriegsopfer, Mordopfer und überhaupt alles, was Neugier erregt. Selbstverständlich wird Reklame mit Fotos. Große Verbreiter sind die Weltausstellungen, in denen die zweite Hälfte des Jahrhunderts schwelgt. Auf ihnen werden tausende Fotografien gezeigt, von Maschinen und Erfindungen, und sodann in illustrierten Büchern verbreitet. Die Reproduktion wird mit der Fotografie massentauglich. Das Rijksmuseum bewahrt neben 130 000 Fotografien des 19. Jahrhunderts 17 000 Fotobücher. Ohne sie ist die Wirkung der Lichtbildnerei gar nicht denkbar.

2014 weihte das Amsterdamer Haus seinen umgebauten Philips-Flügel mit seiner Fotosammlung zum 20. Jahrhundert ein, jetzt folgt der chronologische Auftakt. Wiederum liegt ein ausgezeichnetes Begleitbuch vor, und als kleinen Gag haben die Kuratoren, Mattie Boom und Hans Rooseboom, ein Exemplar des algenblau gebundenen Kataloges unter die historischen Bücher in den Vitrinen der Ausstellung geschmuggelt: Fotografie im Spiegel ihrer selbst. In dieser, einer rundum großartigen Ausstellung.

Amsterdam, Rijksmuseum, bis 17. September. Katalog in Englisch, 39,95 €.

Bernhard Schulz

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