Das Kino der Nachkriegszeit: Es singt und summt die Welt
Ehrenrettung: Das Berliner Zeughauskino entdeckt den bundesdeutschen Nachkriegsfilm neu - Papas Kino war durchaus lebendig, realistisch und gegenwartsnah
Vergangenheit vergeht nicht. Sie kehrt zurück, in Erinnerungen, Gedankensplittern und Alpträumen. Der Arzt, der im Melodram „Die große Versuchung“ bei der Lektüre eines Fachbuches eingenickt ist, glaubt, wieder an der Ostfront zu sein. Bomben explodieren, Häuser brennen, und er steht, unablässig „Der Nächste“ murmelnd, am Operationstisch, auf den immer neue Verwundete gehoben werden. Ein blutiges Trauma.
In dem westdeutschen Dorf, in dem der Film „Kirmes“ spielt, hängen Adenauer-Plakate mit der Parole „Keine Experimente“, auf einer Wand warnt eine Schrift: „Atomtod droht“. Als auf dem Festplatz eine Grube ausgehoben wird, treten Relikte einer Zeit zutage, die man gerne vergessen hätte. Ein Wehrmachtshelm, Uniformfetzen, ein Skelett. Es sind die sterblichen Überreste eines Deserteurs aus den letzten Kriegstagen. Die Honoratioren, die nun der Mutter des Toten raten: „Besser, Sie bewahren das Bild Ihres Sohnes im Herzen und lassen alles auf sich beruhen“, waren bereits in Amt und Würden, als er starb. Ein Enthüllungsdrama.
Der deutsche Film der Nachkriegszeit steht in keinem guten Ruf. Dass es geschichtsvergessen, opportunistisch und restaurativ sei, wird „Papas Kino“ vorgeworfen, seit es von den Initiatoren des Oberhausener Manifests 1962 für tot erklärt wurde. Die Polemik galt dem Mainstream der Produktionen, die während der Adenauer-Jahre in die Lichtspielhäuser kamen. Gerecht war sie nicht. Denn es gab auch Filme, die den Krieg so zeigten, wie er war, nämlich schmutzig, und ihren Realismus mit einer Kritik an der Gegenwart verbanden.
Wolfgang Staudte war Pazifist - und trat deshalb in "Jud Süß" auf
In „Kirmes“, den Wolfgang Staudte 1960 mit dem jungen Götz George drehte, mischen sich Bundeswehr-Rekruten unter die Besucher des Rummels. Die Wiederbewaffnung – so die These des Films – bereitet den nächsten Krieg vor. Staudte war Pazifist, so sehr, dass er im „Dritten Reich“ als Komparse im Hetzfilm „Jud Süß“ auftrat, um nicht zur Wehrmacht eingezogen zu werden. „Zu den Verhältnissen“ heißt eine umfassende Retrospektive im Berliner Zeughauskino, die mit „Kirmes“ eröffnet wurde und bis Jahresende demonstrieren möchte, wie viel es noch zu entdecken gibt im bundesdeutschen Kino der fünfziger Jahre.
„Die große Versuchung“ erzählt von einem Kriegsheimkehrer, der noch nicht angekommen ist in der beginnenden Wirtschaftswundergesellschaft. Der Mediziner, von Dieter Borsche mit akkuratem Scheitel verkörpert, hat an der Ostfront Verwundete operiert, muss nun aber vier Semester seines Studiums nachholen, weil die Papiere bei einem Luftangriff verbrannten. Als ihm eine Oberarztstelle angeboten wird, wird er zum Betrüger.
Das Drama, 1952 vom Ufa-Melodramatiker Rolf Hansen inszeniert und Auftakt einer ganzen Reihe von Arztfilmen, zeigt die Wunden des Kriegs, die sich noch nicht wieder geschlossen haben. In der grandiosen Auftaktsequenz läuft Borsche durch die Münchner Innenstadt, Autos, Fußgänger und Straßenbahnen sind zu einem furiosen Bilderstakato geschnitten. Um von ihren Erinnerungen loszukommen, hatten sich die Deutschen ins Hochgeschwindigkeitstempo des Wiederaufbaus geworfen.
Rund hundert Filme gehören zu der Retrospektive, die in vier Blöcken bis Ende Dezember präsentiert werden sollen. „Wir wollen zeigen, wie wahnsinnig toll dieses Kino ist“, sagt Kurator Olaf Möller. Aufgeräumt werden soll mit Mythen. So seien das Oberhausener Manifest und der Beginn des Neuen Deutschen Films „eher eine Reformation als eine Revolution“ gewesen. Viele spätere Autorenfilmer arbeiteten schon in den fünfziger Jahren beim Film, und viele Themen des alten setzte auch das neue Kino fort. Etliche Filme des Berliner Programms waren bereits bei der ebenfalls von Möller kuratierten „Geliebt und verdrängt“-Retrospektive des Filmfestivals von Locarno zu sehen.
Die soldatischen Männerbilder hatten ausgedient
„Was sagen Sie, verschwunden im Ostsektor?“, fragt der Kommissar in „Die Spur führt nach Berlin“. Der Thriller, 1952 von Artur Brauner produziert, gehört zu den raren Film Noirs des Adenauer-Kinos. Höhepunkt ist eine Autoverfolgungsjagd zwischen dem Ford Vedette einer Devisenschieberbande und mehreren Dutzend VW-Käfern der West-Berliner Polizei, die am Brandenburger Tor endet. Noch bizarrer wirkt der Verschwörungsthriller „Im Stahlnetz des Dr. Mabuse“ (1961) mit Lex Barker und Gert Fröbe, bei dem der Jahrhundertschurke mit einer Armee gehirngewaschener Zuchthäusler ein Atomkraftwerk angreift.
„Einst waren wir frei / Nun sind wir besetzt / Das Land ist entzwei / Was machen wir jetzt?“, will das „Lied vom Wirtschaftswunder“ in Kurt Hoffmanns Deutschland-Komödie „Wir Wunderkinder“ (1958) wissen. Seinen braven Witz kontert die Filmreihe mit der böseren Satire von Wolfgang Neuss’ Mitläufer-Kabarett „Wir Kellerkinder“ (1960), bei dem Neuss mit seiner Trommel die Macht im Keller einer Berliner Mietskaserne ergreift. Selten zu sehen sind die Dokumentar- und Kurzfilme des Programms. wie „Kahl“ über den Bau eines Atomkraftwerks in Unterfranken. Der Regisseur Ekkehard Scheven, 95, kommt am 28. Februar ins Zeughaus, um seine Produktion „Das Wunder des Films“ zu zeigen.
Vom „zurückhaltenden Minimalismus“ im Spiel von Rudolf Prack und Dieter Borsche schwärmt Dominik Graf im Buch zur Retrospektive von Locarno. „In den Kuss- und Umarmungs-Situationen mit ihren Partnerinnen singt und summt die Welt um sie herum.“ Auch darin zeigt sich das Neue im deutschen Nachkriegskino: Die soldatischen Männerbilder haben ausgedient.
Infos unter www.dhm. de/zeughauskino. Das Buch „Geliebt und verdrängt“, hg. v. Claudia Dillmann u. Olaf Möller (Deutsches Filminstitut) kostet 24,80 €.
Christian Schröder
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