„Die Wiederholung“ an der Schaubühne: Es geht um alles
Ein Mordfall als Theaterseminar: Mit „Die Wiederholung“ eröffnet Milo Rau die neue Spielzeit an der Schaubühne.
In einer Aprilnacht vor sechs Jahren kam der 32-jährige Ihsane Jarfi vor einer Schwulenbar im belgischen Lüttich mit drei jungen Männern ins Gespräch und stieg schließlich in ihren Polo. Zwei Wochen später wurde er tot am Waldrand gefunden. Die Täter hatten ihn stundenlang gequält, gefoltert und irgendwann, nackt und bewusstlos, auf der Straße liegen lassen. Mit diesem Mordfall beschäftigt sich Milo Raus jüngstes Projekt „Die Wiederholung“. Bereits im Mai in Brüssel uraufgeführt, läutete es jetzt an der koproduzierenden Schaubühne die neue Theatersaison ein. Und in gewisser Weise darf man diesen Auftakt tatsächlich programmatisch verstehen. Denn eigentlich möchte Rau nichts Geringeres als Alles auf die Bühne bringen. Sowohl, was das Theater generell ausmacht als auch, was es zurzeit besonders umtreibt. Quasi von der griechischen Tragödie zum zeitgenössischen Sozialdrama, von der Praxis der Einfühlung zur Theorie der Repräsentation: Eine ziemlich sportliche Angelegenheit. Aber Minimalismus war ja noch nie das Problem des Schweizer Theatermachers.
Besser, die Latte zu hoch legen als permanent – auch das soll ja im Theaterbusiness vorkommen – unter ihr durchzumarschieren: Nach diesem auch für die übrige Spielzeit durchaus begrüßenswerten Motto wird der Mordfall Jarfi bei Rau weniger en détail rekonstruiert als zum Ausgangspunkt für eine Art globales Metatheater genommen. Indem vier Profi-, ein Laiendarsteller und eine Laiendarstellerin – Hundesitterin Suzy Cocco und Lagerist Fabian Leenders – den eigenen Annäherungsprozess ans Sujet thematisieren, kommen praktisch alle Fragen auf den Tisch, die sich inhaltlich, moralisch, künstlerisch und methodisch stellen.
Warum engagieren sich die Zuschauer nicht?
Schauspieler Johan Leysen steigt gleich mit einer Grundsatzfrage über Schein und Sein auf der Bühne ein, indem er sich über Kollegen wundert, die sich bereits in der Garderobe in Rollen einfühlen: „Meines Erachtens spielen sie gar keine Figuren, sondern Schauspieler.“ Dann bringt Kollege Sébastien Foucault nicht nur die harte soziale Realität in der ehemaligen Industriestadt Lüttich ins Spiel, von der auch Jarfis Mörder betroffen sind, sondern zugleich das Für und Wider der Wirklichkeitsverkunstung durch die Brüder Dardenne: Kein (arbeitsloser) Lütticher weit und breit, der – running gag des Abends – nicht schon mal als Statist in einem Sozialdrama der beiden mitgewirkt hätte. Mit Tom Adjibis gespielter Rekonstruktion eines Castings kommen schließlich die im Theater derzeit besonders intensiv geführten Diskurse um Repräsentation, kulturelle Hegemonie und Teilhabe ins Spiel: Vor ein paar Jahren habe er einen Vorsprechtermin für einen Film der Dardenne-Brüder bekommen, erzählt Adjibi, dessen Mutter aus Frankreich und dessen Vater aus Benin stammt: „Sie suchten einen Afrikaner“. Nachdem er dem Bilder geschickt hatte, hörte er schlagartig nichts mehr vom Projekt: „Ich war wohl nicht schwarz genug für die Rolle.“ Schließlich sei er einfach ohne Termin zum Casting gegangen – und spielte am Ende einen Arzt. Bei Rau wird Tom Adjibi später – in der Rolle des Mordopfers und in einer realistisch nachgestellten Szene, die ausdrücklich an die Erträglichkeitsgrenze der Zuschauerinnen und Zuschauer gehen will – nackt auf der Bühne liegen, während die anderen auf ihn einprügeln.
Im Grunde sei „Die Wiederholung“ eine „Allegorie über die Rolle der Zuschauer“, sagt Rau. „Warum schauen sie zu? Warum engagieren sie sich nicht?“ Hier wird freilich eine prinzipielle Krux des Abends offenbar: Für entsprechende Eingreif-Impulse hatte die Schauspielerin Sara de Bosschere eingangs die Kunst des schmerzfreien Als-ob-Bühnen-Schlagens definitiv zu überzeugend vorgeführt.
Es ist ein Abend der losen Enden
Natürlich ist die Reflexion über die Dialektik von Spiel und Realität sowie über Repräsentation auf der Bühne nicht neu. Aber was andere theoriehintergründige Künstler wie René Pollesch seit Jahren mehr oder weniger performativ thematisieren, behandelt Milo Rau praktisch in Seminarform: Ähnlich wie in seinem Erfolgsprojekt „Five Easy Pieces“, in dem er mit Kindern den Fall des belgischen Kindermörders Marc Dutroux aufrollte, werden die Vorgänge auf der Bühne permanent meta-erklärt, via Live-Kamera gedoppelt – und so als buchstäblich unsicheres, da vielperspektivisches Geschehen vorgeführt. Weniger seminaristisch genau nimmt es Rau indes mit der Kohärenz der Spuren, die er so üppig ausstreut an dem vergleichsweise kurzen Abend: Was ist Zufall? Welchen Anteil hat die sozial prekäre Lage der Mörder an der Tat? Was genau unterscheidet ein dokumentarisches Drama von der antiken Tragödie, die hier qua Aktstruktur sowie Formulierung von Schuld- und Schicksalsfragen aufgerufen wird?
Es ist ein Abend der losen Enden, dem es weniger um Antworten geht als um eine Ansammlung von Fragen, die das Theater in der kommenden Spielzeit mit Sicherheit beschäftigen werden. Rau selbst startet bald als Intendant in Gent – und hat sich nach dem Vorbild der Dogma-Filmer ein Manifest verordnet. „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen“, lautet Punkt eins anspielungsreich. „Es geht darum, sie zu verändern.“ Voila.
Wieder an diesem Montag, 3.9. und am Dienstag, 4.9., jeweils 20 Uhr
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