Haus der europäischen Geschichte in Brüssel: Erzählung eines Kontinents
Das frisch eröffnete Haus der europäischen Geschichte in Brüssel möchte Europa ein gemeinsames Narrativ geben. Das gelingt nicht immer. Trotzdem ist es einen Besuch wert.
Der Aufbruch in die Freiheit: ein Lichtgewitter. Pulverdampf und Feuerschein beim Sturm auf die Bastille. Napoleons Soldaten treiben die Könige und den Adel in die Flucht. Dann neue Barrikaden, in Paris, Berlin, Brüssel. Revolutionäre recken schwarz-rot-goldene Flaggen in den Himmel. Der Fortschritt siegt. Marx steigt wie Moses herab vom Berg, hält eine Gesetzestafel in der Hand, sein „Manifest“. Geistesblitze zucken in alle Richtungen. Aus den Lautsprechern schallt freudetrunken der Optimismus von Beethovens „Ode an die Freude“. „Seid umschlungen, Millionen! / Diesen Kuss der ganzen Welt!“, jubeln Schillers Textzeilen.
So schildert das Haus der europäischen Geschichte, das jetzt in Brüssel eröffnet wurde, die Jahre von 1789 bis 1848: als multimedialen Schweinsgalopp auf einer riesigen Leinwand. Museen müssen Komplexität reduzieren, um Ereignisse verständlich zu machen. Aber so radikal wie in dem Haus, laut Eigenwerbung „ein Ort, an dem Probleme der Gegenwart“ diskutiert werden sollen, „ausgehend von ihren historischen Ursachen“, wurde das wohl selten gemacht. Der Terror der Jakobiner kommt nicht vor, auch die Entstehung immer aggressiver nach außen gerichteter Nationalismen bleibt weitgehend ausgeblendet. Erzählt wird mit fast Schillerschem Pathos eine Geschichte vom Bösen zum Guten, aus dem Dunklen ins Helle. Als Happyend fungiert die Gründung der Europäischen Union, deren 1951 entstandener Vorläufer Montanunion hieß.
Teile der Ausstellung sind arg verkürzt, überinszeniert und eurozentrisch
Eine arg verkürzte Form der Geschichtsschreibung. An einigen Stellen wird die Präsentation von 1500 Exponaten auf 4000 Quadratmetern durch ihre Überinszenierung geradezu unerträglich. Etwa, wenn die Zeit vor dem 19. Jahrhundert auf ein liebloses Arrangement in einer gezackten Großvitrine reduziert wird, deren dunkle Bedeckung bloß linsenförmige Einblicke erlaubt. Dort stehen und liegen eine Aristoteles-Büste, eine französische Enzyklopädie, eiserne Fuß- und Handfesseln von Sklaven, ein Telegraf und Weiteres nebeneinander.
Kunst und Krempel, willkürlich zusammengetragen. Von nebenan quillt sphärische Musik herüber. Ein großes Rad dreht sich am Boden, über das Projektionen von Gesichtern, historischen Landkarten und Windrosen tanzen. Ein Exemplar von „McArthur’s Universal Corrective Map of the World“, entworfen von einem australischen Kartografen, führt die Absurdität des Eurozentrismus vor Augen. Im Mittelpunkt prangt der fünfte Kontinent, der Rest der Welt hängt kopfüber darunter. Europa: bloß ein Randphänomen. Müsste es aus dieser Perspektive nicht eigentlich heißen: Australien ist der erste Kontinent?
Die Darstellung des späten 19. und katastrophischen 20. Jhr. ist geglückt
Anders als Australien besitzt Europa keine natürlichen Grenzen. Wo es endet, das bleibt Ansichts- und Verhandlungssache. Seinen Namen hat der Staatenverbund von einer phönizischen Königstochter aus der griechischen Mythologie. Zeus erschien ihr in Gestalt eines Stiers, um sie zu entführen. Diese Ursprungsgeschichte, eigentlich ja eine Vergewaltigung, illustriert die Ausstellung in hinreißenden Darstellungen von einem römischen Relief aus Sizilien, 580 bis 560 v. Chr., bis zu einem aktuellen Titelbild des „Economist“, auf dem die Prinzessin trauert, während der Stier im Hintergrund davonläuft. Europa ist übrigens außerhalb Europas geboren worden, das Reich ihres Vaters lag im heutigen Libanon und in Syrien.
Manches in der von zehn Wissenschaftlern aus acht Ländern gestalteten Dauerausstellung wirkt unterkomplex, harmonieselig oder effekthascherisch. Trotzdem ist das Haus der Europäischen Geschichte unbedingt eine Reise wert. Denn natürlich war es eine Herkulesaufgabe, aus den Nationalerzählungen der europäischen Staaten, die noch vor zwei Generationen Krieg gegeneinander geführt haben, ein großes gemeinsames Narrativ zu machen. Ein transnationaler Ansatz, der trotzdem Raum lassen soll für den Blick auf jeden nationalen Sonderweg. Im wichtigsten Teil, dem Zeitalter vom späten 19. bis ins katastrophische 20. Jahrhundert, ist das geglückt.
Die Hoffnung aus Geschichte zu lernen
Auf der Fassade des Eastman-Gebäudes, einem eleganten Art-Deco-Bau von 1935, ist der Name des Museums in allen 24 Amtssprachen der EU zu lesen. An den Exponaten fehlt hingegen jede Beschriftung, stattdessen liefern Tablets dem Besucher polyglotte Informationen. Das Museum, von einem Mäzen ursprünglich als Zahnklinik errichtet, liegt im Léopold-Viertel, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Europa-Parlament und anderen Institutionen des Staatenbundes. 55 Millionen Euro hat es gekostet, das Haus zu renovieren und nach Plänen des Pariser Architekturbüros Chaix & Morel zu erweitern. Würfelförmig, halb trutzig, halb transparent, ragt es nun über einem kleinen Park auf. Auf sieben Etagen, von denen fünf der Dauerausstellung gehören, promenieren die Besucher durch die Geschichte.
„Wenn wir die Europäische Geschichte vergessen, wissen wir gar nicht mehr, was alles noch kommen kann“, sagt Hans-Gert Pöttering. Deshalb, meint der deutsche CDU-Politiker, sei das Museum „heute noch bedeutsamer als 2007“. Damals hatte Pöttering als Präsident des Europa-Parlaments den Anstoß zu dem Projekt gegeben. Aus Geschichte kann man lernen. Hoffentlich. Das ist die Aufgabe, die sich nach dem Erstarken der Rechtspopulisten und Europa-Verächter nun umso dringlicher stellt.
Für den Übergang zur Ära der Industrialisierung steht ein gewaltiger Stahlhammer, die Replik eines Originals aus dem Science Museum in London. Dort, wo sich normalerweise der Amboss befindet, liegt eine Ausgabe des „Kommunistischen Manifests“. Eine Pointe, die im Wortsinn platt ausfällt. Andererseits: Haben die Fabriken mit ihren 12- bis 16 Stunden-Arbeitstagen nicht das Leben der Arbeiter geformt? Und formte ihr elendes Sein dann nicht ein Bewusstsein, das von einer besseren Welt träumte?
Krieg, Imperialismus und Totalitarismus
Dr. Karl Marx und sein Historischer Materialismus inspirierten die Kuratoren offenbar zu einer durchquerbaren Großvitrine, genannt „Kristallpalast“ nach der Londoner Weltausstellungs-Architektur von 1851. Ein Lehrgebäude der Dialektik. Links finden sich Insignien von Bürgerstolz und Wohlstand, Gaslaternen, ein Glühbirnen-Plakat, das Modell einer Dampflok. Rechts werden Beispiele für die Abgründe des Imperialismus gezeigt, Zigarettenbildchen mit „wilden“ Pyromanen, der Grundriss eines Sklavenschiffs, Abgüsse von afrikanischen Köpfen aus dem rassistischen „Castan’s Panoptikum“ in Berlin.
Der beklemmendste und beste Teil der Ausstellung handelt vom neuen Dreißigjährigen Krieg, der nicht bloß Europa betraf, sondern die ganze Welt. Und vom Zeitalter der Totalitarismen, die europäische Erfindungen waren. Den Anfang symbolisiert eine kleine Browning-Pistole desselben Modells, mit der Gavrilo Princip in Sarajevo den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand erschoss. Neben einer Wand voller Gasmasken hängt ein Zitat von Ernst Jünger: „Das Bild des Krieges war nüchtern, grau und rot seine Farben, das Schlachtfeld eine Wüste des Irrsinns“.
Die Botschaft ist klar
Revolutionsfilme, Arbeitslosen-Fotos, Wall-Street-Schlagzeilen und ein „Metropolis“-Plakat bringen die Zwischenkriegszeit zum Tanzen, dann schieben sich immer mehr Hakenkreuze, Rote Sterne, Hämmer und Sicheln nach vorne. Den Uniformen von Wehrmacht, SA, SS und Rot-Kreuz-Frauen werden die blau-weißgestreiften Arbeitsjacken der KZ-Häftlinge gegenübergestellt. Es sind doppelt so viele Arbeitsjacken. Zwangsarbeitsjacken, Zwangsjacken.
Leider werden Gründung und Triumph der Europäischen Union, das „Europa im Werden“, so der O-Ton der fünfziger Jahre, eher staatstragend abgehandelt. Die grünen Wimpel von Churchills „European Movement“, Adenauers Karlspreis-Kette, Büsten von De Gasperi und Robert Schuman in einer Industrieskulptur. Stahlharte Montanunion. Es fehlt das Europa der Schlagbaum-Zerstörer und des Jugendaustauschs. In der Abteilung zum Wirtschaftswunder steht ein jugoslawischer Kleinwagen Zastava 750. Der Besucher kann darin durch Altstädte, durch Berg und Tal und zum Meer kreuzen. Dazu läuft der alte Sehnsuchtshit „Volare“. Die Botschaft ist klar: Europa muss weiter auf Kurs bleiben.
Haus der Europäischen Geschichte Brüssel, Rue Belliard / Belliardstraat. Eintritt frei.
Weitere Informationen: www.europarl.europa.eu/visiting/de/brüssel/haus-der-europäischen- geschichte