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Der Regisseur und Schriftsteller Alexander Kluge
© Ursula Düren/dpa-bildfunk

Alexander Kluge und sein "Pluriversum": Erzählen und verknüpfen

Auf 1000 Plateaus und mit den Mitteln des Zitat-Pop: Eine Begegnung mit Alexander Kluge am Rande seiner "Pluriversum"-Schau im Literaturhaus München.

Es wirkt an diesem Abend im Münchener Literaturhaus so, als befinde man sich auf einem Suhrkamp-Empfang während der Frankfurter Buchmesse. Alexander Kluge eröffnet mit der Lyrikerin Ann Cotten seine „Pluriversum“-Ausstellung (bis 29.9.), und unten am Eingang sieht man zuerst den Autor und Gender-Professor Thomas Meinecke, wie er auf den Fahrstuhl in den fünften Stock des Literaturhauses wartet. Und dort, ist das nicht der Schriftsteller Tilman Spengler? Oben am Rand der Bühne steht die Münchener Verlegerin Antje Kunstmann im Gespräch mit Rachel Salamander, der einstigen Herausgeberin der Literarischen Welt, die nun Aufsichtsrätin, genau, des Suhrkamp Verlags ist.

Ja, und in der ersten Reihe sitzt Hans Magnus Enzensberger, der später mehrmals herzlich umarmt wird von Kluge, sie beide intellektuelle Institutionen der alten Bundesrepublik. Der eine ein Universalgenie, der andere auf seine Art im Reich der Schrift auch. Der eine, Kluge, mit 87 Jahren agil wie eh und je, der andere, fast drei Jahre älter, inzwischen etwas gebrechlich wirkend. Während seiner unterhaltsamen zweistündigen Lese- und Filmperformance wird Kluge nicht müde zu betonen, wie sehr Enzensberger ihn beeinflusst habe, dieser sein poetischer Rector sei. Am Ende lesen er und Cotten Variationen auf Enzensbergers aus 33 Gesängen bestehende sogenannte Komödie „Der Untergang der Titanic“.

Für Kluge ist das Ohr der Ausgang des Denkens

Thomas Meinecke hatte vorher davon gesprochen, dass Kluge inzwischen zu einer gewissen Gerührtheit neige, er nah am Wasser gebaut sei. Das merkt man auf der Bühne bei den Lobpreisungen für Enzensberger, bei den Ankündigungen der Klavierstücke und Filme. Und besonders, als Kluge kurz auf eine Filmszene verweist, in der seine 2017 verstorbene Schwester Alexandra zu sehen ist, die gerade dabei ist, Buchseiten zu verspeisen.

Das wird aber auch später spürbar, als Kluge sich gleich zweimal bedankt dafür, dass ich extra aus Berlin angereist sei, „aus der Hauptstadt nach München!“, wie er das ironisch hervorhebt. Nun denn. Unten im Ausstellungsbereich hinter dem Literaturhaus-Restaurant winkt er sogleich herüber und sagt, ich solle mir doch mal das „Hirnhäuslein“ von Anselm Kiefer genauer anschauen, das zeige so exakt, wie Knochen und Denken zusammengehören: „Draußen die Mauer, drinnen das Hirn“, und, so Kluge weiter es gebe nur einen Ausgang des Denkens: das Ohr.

"Eigentlich versuche ich immer noch, meine geschiedenen Eltern wieder zusammenzubringen"

Wie bereits auf der Bühne, wo Kluge alles mit allem assoziiert hatte, die Poetik mit den Naturwissenschaften, Descartes mit den Algorithmen, er und Cotton gewissermaßen auf tausend Plateaus spazieren waren, sich im Zitat-Pop übten und die Kraft der Poesie beschworen, kommt Alexander Kluge auch nun, als wir vor dem „Hirnhäuslein“ stehen, von einem zum anderen. Kaum hat er die Trümmerlandschaften am Ende des Zweiten Weltkriegs mit denen syrischer Städte der Gegenwart verglichen, erzählt er von seinem Vater, dem „Theaterarzt“. Der hatte eine Praxis in Halberstadt und versorgte vor allem die Landbevölkerung, Stets habe der Vater, so Kluge sein Leben der Kunst widmen wollen. Erst recht, nachdem ihn seine Frau verlassen hatte und nach Berlin gegangen war. „Das war ein Schlag, ich war elf, zwölf Jahre alt. Eigentlich versuche ich zeit meines Lebens sie wieder zusammenzubringen. Wenn meine Eltern noch leben würden, ich bin mir sicher, ich hätte das jetzt geschafft.“

Als Kluge das sagt, hat man den Eindruck, er fange wirklich gleich an zu weinen, so gerührt wirkt er. Doch hat er keine Zeit, sich dem zu überlassen. Er muss weiter durch sein Werk-Labyrinth führen. Kluge schickt eine Kollegin los, sie solle schnell einen Audioguide holen. Denn ich möge doch bitte schön einmal die plattdeutsch sprechende Hannelore Hoger hören und zwar wie sie eine Soldatenfrau mimt, die 1945 ihren vom Krieg seelisch zerstörten Mann ins Lot zu bringen versucht.

Schon muss er weiter, seine alte Arriflex-Kamera zeigen. Mit der filme er immer noch, seine ersten Filme seien mit ihr entstanden. Und nicht nur die: „Edgar Reitz hat mit dieser Kamera ebenfalls seine ersten fünf Filme gedreht“. Ist da nicht wieder so ein Schimmer in den Augen, eine gewisse Zärtlichkeit im Blick, als er über die Kamera streicht? Kurz darauf fällt die Formulierung vom „mündlichen Empfinden“, und so geht es an diesem Abend noch eine ganze schöne Weile weiter mit Kluges unablässigen und sprichwörtlich wunderbaren Erzählen und Verknüpfen.

Gerrit Bartels

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