Ein Spaziergang mit Kurzeck: Sommer für immer
Gießen, Lollar, Staufenberg: ein Spaziergang mit dem Schriftsteller Peter Kurzeck durch die Orte seiner Kindheit und Jugend
Wie verabredet steht Peter Kurzeck vor der Buchhandlung im Gießener Hauptbahnhof. Er ist ein kleiner Mann mit einer leicht schief wirkenden Körperhaltung, und passend zu der Hitze an diesem Frühsommertag trägt er ein helles Sakko und eine helle Hose. Seine Stimmung ist ausgezeichnet, wie zumeist an Juni-Tagen, seit seiner Kindheit. Die Gründe dafür hat er in seiner Hörbucherzählung „Ein Sommer, der bleibt“ benannt: „Im Juni ist mein Geburtstag, und die Tage sind am längsten, und es ist schon Sommer und man weiß, man hat noch einen langen Sommer vor sich.“
In der Bahnhofsbuchhandlung hat er ein Exemplar seines monumentalen Erinnerungsromans „Vorabend“ entdeckt, der schon jetzt als einer der bedeutendsten Romane 2011 gilt. „Mein Buch liegt neben Zsusza Bánks Roman ‚Die hellen Tage’, das passt, denn Zsuzua Bánk ist ein Fan von mir“, freut er sich und fügt an, dass der Laden selten von ihm was vorrätig habe, „früher ja, aber irgendwann war Schluss.“
Was natürlich nicht geht. Nicht bei einem Buchladen in einer Stadt, die fester Bestandteil des Kurzeck-Universums ist, seines Lebens und Schreibens. 1943 im böhmischen Tachau geboren, ging Kurzeck in Gießen aufs Gymnasium, hier hat er eine Ausbildung gemacht, gearbeitet und viele Jahre gelebt. All das ist in sein Werk genauso eingeflossen wie die gesellschaftlichen und architektonischen Veränderungen Gießens von den fünfziger Jahren bis Mitte der achtziger Jahre.
Mehr noch als Gießen (und Frankfurt, wo der 68-Jährige seit 1977 im Wechsel mit dem südfranzösischen Uzès lebt) spielen in „Vorabend“ zwei andere Orte eine tragende Rolle: das acht Kilometer von Gießen entfernte Städtchen Lollar sowie das Dorf seiner Kindheit, das kurz hinter Lollar auf einem Basaltfelsen thronende Staufenberg mit seiner Burg, wohin Kurzeck 1946 als Flüchtlingskind kam.
Schon auf dem stillen Lollarer Bahnhof kommt Kurzeck ins Erzählen. Er beschreibt die lange aufgegebene Bahnhofskneipe, erläutert die Bedeutung des Bahnhofs für die Nachkriegsindustrie, insbesondere das nahe Buderus-Werk, und weist auf einen alten Backsteinturm eben jenes Werkes hin, dass die Umgebung ehedem in Staub und Ruß hüllte. Hinter einer Unterführung beginnt das Städtchen, linkerhand mit der Metzgerei Schnaut, die seit seiner Kindheit existiert. „Ich war vor kurzem erst drin, alles voller Hausfrauen, die Unmengen von Fleisch und Wurst kaufen. Das ist jetzt ja wichtig, wo man wieder kein Gemüse und Obst kaufen kann. Früher war immer genau eingeteilt, was man bei welchem Metzger am besten kauft. Beim Nürnberger die grobe Bratwurst, bei Schnaut den Schinken, beim Flüchtlingsmetzger aus dem Banat besondere Gulaschsorten.“
Plötzlich hält ein Auto mit Münchner Kennzeichen. Vom Beifahrersitz kommt die Frage: „Kennen Sie sich hier aus?“ – „Halbwegs“, antwortet Kurzeck halbwegs bescheiden. Wo das gesuchte Angelgeschäft ist, weiß er aber nicht: „Nein, wenn es hier eines gibt, ist es neuer als meine Kenntnis.“ Eher neu ist auch Lollars stark befahrene Hauptstraße, die je nach Richtung Marburger oder Gießener Straße heißt. „Die sieht nach nichts mehr aus“, klagt Kurzeck, „die kam einem als Kind so besonders vor. Die hatte breitere Gehsteige und Bäume noch, und an den Häusern waren kleine Gesimse aus Stuck, die haben die einfach abgeschlagen. Die Kurve hier, die war ganz eng, die Häuser drängten nach vorn, die sind jetzt alle weg.“ Oft bleibt Kurzeck stehen, erklärt, was früher war, das Kaufhaus Heyer, das Rex-Kino, der erste Italiener. Dann aber, er wirft gerade sein Sakko über die Schulter, meint er: „Eigentlich steht alles im Buch, ich will mich ja nicht wiederholen.“
Man weiß nicht, ob das jetzt Koketterie ist oder eine Aufforderung, ihm Neues zu entlocken. Kurzeck wiederholt sich ständig, das hat sein mündliches wie schriftliches Erinnern so an sich. Es stört ihn keineswegs, wieder und wieder und oft mit identischen Worten die Welt seiner Kindheit heraufzubeschwören. Auf dass wirklich nichts verloren gehe, auf dass genau so der Zeit ein Schnippchen geschlagen werde, sie sich als solche erzählen lasse. Heißt es doch in „Vorabend: „Geht das: So erzählen, dass die Zeit stehen bleibt?“
In Lollar und in Staufenberg ist sie nicht stehen geblieben. Kurzeck glaubt, das ganz sachlich zu registrieren. Von Nostalgie will er nichts wissen. Fast empört reagiert er auf die Frage, ob seinem Erinnern und „Die-Gegend-Erzählen“ auch ein nostalgischer Moment innewohnen könnte: „Nostalgie? Dieses Wort kenne ich gar nicht“, sagt er. Und schließt an: „Mich stört, dass vieles so hässlich geworden ist. Man geht hier durch den Ort und sieht nichts mehr. Das war früher nicht so. Da hatte alles eine Eigenart. Ein großer Teil der heutigen Materialien zum Beispiel sind genormt, die haben nichts Eigenes mehr. Gemessen an den Gebäuden der Sparkassen, die alle paar Jahre neu gebaut werden, gemessen an den Gesprächen, die geführt wurden, ist hier heute fast nichts mehr.“
Anders als das nichtssagende, stark durchfahrene Lollar hat sich Staufenberg trotz der direkt unter dem Ort verlaufenen Autobahn seinen alten, dörflichen und dösigen Charme bewahrt, mit steilen, engen Straßen, Treppengässchen, alten Fachwerkhäusern. Peter Kurzeck bewegt sich im Dorf seiner Kindheit ganz selbstverständlich, ja, professionell. Als frischgebackener Ehrenbürger stört es ihn nicht, sogleich erkannt zu werden. Es schmeichelt ihm. Ganz Ohr ist er, als ihn ein alter Mann auf dem Parkplatz des Dorfes anspricht. Geduldig-wohlwollend lässt Kurzeck sich das Leben des Mannes von der Vorkriegszeit bis in die Gegenwart skizzieren. Dann aber übernimmt er wieder das Gesprächszepter. Wo heute der Parkplatz Staufenbergs ist, war früher der „Poul“ genannte Teich Staufenbergs. Der diente als Viehtränke, Fisch- und Feuerwehrteich, „gehörte aber eigentlich“, so Kurzeck, „den Kindern und Fröschen“. Bei einem Blick ins Tal zeigt er auf die Stelle, wo die Staufenberger bis zur Eröffnung des Schwimmbads in Lollar ihre Badestelle an der Lahn hatten. „Jedes Dorf hatte seine eigene. Nicht ganz zwei Kilometer waren das für uns. Hinzugehen war einfach, weil es bergab ging. Aber wenn man abends müde heimkam und es ging bergauf, über steinige, schmale Straßen, hatte man den Eindruck, man stolpert, fast den Rest seines Lebens!“
Bei einem der vielen Espressi an diesem Tag – Kurzecks Ersatzdroge nach seiner Abkehr vom Alkohol Ende der Siebziger – kommt er auch auf sein autobiografisch- poetisches, auf zwölf Bände angelegtes Projekt „Das alte Jahrhundert“ zu sprechen. Auch dies eine lange Geschichte, die 1984 mit dem Auftrag begann, für ein Stadtmagazin, über das Frankfurter Bahnhofsviertel zu schreiben. Sieben Jahre später erwuchs daraus ein Büchlein, dessen Nachwort der Ausgangspunkt für „Das alte Jahrhundert“ wurde. „Vorabend“ ist der fünfte Band, doch die folgenden sind ebenfalls lange in Arbeit: „Band sieben etwa hat 200 Seiten, die habe ich vor zehn, zwölf Jahren geschrieben. Da muss ja einiges geändert werden, weil sich das Projekt fortlaufend verändert, allerdings nicht auf zeitlicher Ebene. 1984 ist der Endpunkt.“
Lauscht man Kurzeck aufmerksam, hat das Schreiben für ihn etwas Obsessives, ist das ständige Erinnern eine Zwangshandlung. Beides hält sein Leben im Lot – ungeachtet ökonomischer Probleme und auch der ewigen Forderung wohlmeinender Kritiker, ihm jetzt endlich den Büchner-Preis zu verleihen. Diese Forderung findet er fast lästig: „Das heißt ja, dass ich ihn nie bekomme“. Zumal er überzeugt ist, dass der Preis ihm durchaus zustehe („Wulf Kirsten hat mir schon vor 20 Jahren gesagt, eigentlich müsstest du längst den Büchner- Preis haben“) und in jedem Fall seine Arbeitsbedingungen verändern würde. Von wegen höherer Honorare bei Lesungen zum Beispiel.
Erstaunlich ist, dass Kurzeck auch abends, als er im Zug sitzt auf dem Weg zu einer Lesung nach Friedberg, keinerlei Anzeichen von Erschöpfung zeigt. Ob es die Unzulänglichkeiten der Deutschen Bahn sind, über die er sich ereifert: „Irgendwo anzukommen und gleich zu lesen, finde ich grauenhaft. Ich wandere gern vorher noch ein wenig herum und trinke einen Espresso.“ Ob es um die jahrelangen Schwierigkeiten geht, den Ton für sein autobiografisches Werk zu finden, oder um die Komposition seiner Bücher, „die bei ,Vorabend‘ viele gar nicht kapiert haben. Es ist wie Mathematik, mir wird schwindlig davon. Nach dem Schreiben hatte ich manchmal Angst, auf die Straße zu gehen“.
Oder ob er beim Passieren von Butzbach an den Theologen, Pädagogen und Publizisten Friedrich Ludwig Weidig erinnert, der Büchners „Hessischen Landboten“ den letzten politischen Feinschliff gab: Peter Kurzeck spricht und spricht. Nicht aufdringlich, aber gern weit ausholend, in einem hessischen, leicht singenden Idiom. Ein bisschen quengelig-nörgelig wirkt dieses Sprechen, wenn alles nicht so funktioniert, wie er es sich vorstellt. Wenn er sich aber erinnert, er anhebt mit der Formulierung „als Kind“, dann leuchten seine Augen, bekommen seine Worte emphatischen Nachdruck.
Am Ende bekennt er jedoch, froh über das Ende seiner Lesetour zu sein und im Juli wieder nach Frankreich zurückzukönnen. Seit 18 Jahren lebt er mehr als die Hälfte des Jahres in Uzès: „Ich versuche dort, so wenig Menschen wie möglich zu treffen. Ich will dort ungestört arbeiten.“ Dann verabschiedet er sich geschäftsmäßig und eilt aus dem Zug, um wenigstens noch einen Espresso in Friedberg vor seiner Lesung trinken zu können.
Peter Kurzeck, geboren 1943, Flüchtlingskind aus Böhmen,
ist Chronist der oberhessischen Provinz.
Zuletzt erschien sein Roman „Vorabend“ (Stroemfeld, 1015
Seiten, 39,80 €).
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