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Publizistin Carolin Emcke.
© dpa

Carolin Emcke im Interview: „Erzählen, trotz allem!“

Die Publizistin Carolin Emcke spricht im Interview über das Schweigen der Opfer, die Sprache der Gewalt und die Kunst der Toleranz. Ihren neuen Essayband "Weil es sagbar ist" stellt die Philosophin und Kriegsreporterin nächste Woche in Berlin vor.

Carolin Emcke, 1967 in Mülheim/Ruhr geboren, lebt als Publizistin in Berlin. Als Philosophin promovierte sie über "Kollektive Identitäten". Sie unterrichtete in Yale und berichtete bis 2006 für den „Spiegel“ aus Kriegs- und Krisengebieten. Derzeit ist sie als Reporterin vor allem für „Die Zeit“ tätig. Ihr neuer Essayband „Weil es sagbar ist“ ist bei S. Fischer erschienen, dort kamen auch ihre Bände „Von den Kriegen“, „Stumme Gewalt“ und „Wie wir begehren“ heraus.

Frau Emcke, bei der Saisoneröffnung des Maxim-Gorki-Theaters, das als erstes deutsches Stadttheater von einer Intendantin mit türkischen Wurzeln geleitet wird, sagten Sie: Achtet auf die Ähnlichkeiten! Was meinen Sie mit diesem Appell?

Es ist selbstverständlich geworden, von „Identität“ und „Differenz“ zu sprechen. Die Öffentlichkeit sortiert gern in Kollektive: „Migranten“, „Muslime“, „Homosexuelle“ – aber so verschwindet die Vielfalt innerhalb dieser Gruppen und auch die Ähnlichkeit zwischen den Angehörigen verschiedener Identitäten. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Menschen: Woher wir kommen, wie wir glauben, was wir lieben, was wir brauchen, was wir fürchten. Vielleicht ist es meine Erfahrung aus Kriegsgebieten, die mich davor warnt, das Zuschreiben in Kollektive so leicht hinzunehmen. Mit Zuschreibung und Exklusion nehmen Diskriminierung und Gewalt oft ihren Anfang. Deswegen scheint mir die Suche nach Ähnlichkeiten so wichtig.

Schon 2004 beim Goldenen Bären für Fatih Akins „Gegen die Wand“ hieß es, die türkischen Migranten seien nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Trübt das nicht die Freude über Shermin Langhoff?
Der britische Soziologe Stuart Hall hat mal gesagt: Identität ist ein fortwährendes, endloses Gespräch. Jede Generation verhandelt neu, wer sie sein will, wie sie miteinander leben und mit dem Erbe der verschiedenen Kulturen umgehen will. Aber warum ist das gesellschaftliche Lernen so unendlich langsam? Warum sitzen in den Rundfunkgremien zwar die christlichen Kirchen, auch die Jüdische Gemeinde, aber keine Vertreter der Muslime? Das Öffentlich-Rechtliche Fernsehen prägt unsere Bilderwelt, aber so droht ein selbstverständlicher Teil unserer Wirklichkeit ausgeblendet zu bleiben.

In Bad Homburg benannte eine Kita das Martinsfest in Sonne-Mond-und-Sterne-Fest um, und in einer Berliner Volkshochschule wurden kürzlich Aktbilder abgehängt, wegen der muslimischen Volkshochschulbesucher. Was hierzulande zugenommen hat, ist die Rücksicht auf die Gefühle Andersgläubiger.
Die Fremdenfeindlichkeit leider auch. Die Frage ist: Welche Toleranz ist nötig, welche ist fahrlässig? Wonach entscheiden wir, was religiöse Gefühle und was patriarchale Unterdrückung von Frauen kennzeichnet? Die liberale Norm, an der entlang der Kopftuchstreit oder die Mohammed-Karikaturen diskutiert werden sollten, ist die Frage der Selbstbestimmung. Eine Gesellschaft, die sich der Unantastbarkeit der menschlichen Würde verpflichtet fühlt, muss die subjektive Entscheidung von Individuen verteidigen. Wenn eine Frau kein Kopftuch tragen will, muss dieses Recht gegen patriarchalische Familienstrukturen verteidigt werden. Wenn sie eins tragen will, muss ich auch dies verteidigen, gegen eine atheistische oder christliche Mehrheitskultur.

Übertreiben die Deutschen es nicht mit der Rücksicht?
Nein. Worum geht es denn in vielen dieser Konflikte? Um unterschiedliche Begriffe von Scham, von Sexualität, von Emanzipation aus Traditionen und Rollen. Haben wir nicht selber mit ähnlichen Fragen gerungen? Ein banales Beispiel: Meinen Sie, mein Vater hätte mich mit bauchfreiem T-Shirt vor die Tür gelassen? . Für den waren selbst Turnschuhe jenseits des Sports ungebührlich. Dass seine Tochter Philosophie studierte, hat meinen Vater, um es diplomatisch zu formulieren, wenig euphorisiert. Auch bei uns gab es Verhandlungen mit und gegen die Autoritäten der kriegsgeprägten Vätergeneration. Die Frage ist doch, ob vielleicht ähnliche Emanzipationsprozesse in muslimischen Familien stattfinden. Im Übrigen: Mit der Anerkennung von Homosexuellen tun sich die Kanzlerin und die Christdemokraten immer noch schwer – der Gestus der moralischen Überlegenheit gegenüber den angeblich so rückständigen anderen scheint mir da wenig angebracht.

Wo verläuft die Grenze des Respekts vor Selbstbestimmung? Wenn eine Frau freiwillig zu ihrem Mann zurückkehrt, der sie misshandelt, will man sie doch davon abhalten!
Gewalt in der Ehe wurde auch in der Bundesrepublik leider erst in den 90er Jahren zum Straftatbestand. Aber: In jeder religiösen Gruppe muss es natürlich die Möglichkeit geben, sie gefahrlos verlassen zu können. Genau hier, also bei Gewalt, verläuft die Grenze der Toleranz. Der Respekt vor der Selbstbestimmung bleibt elementar. Das gilt aber auch für uns als Mehrheitsgesellschaft. Wir müssen auch religiöse Praktiken akzeptieren, die uns nicht einleuchten. Sonst wäre die behauptete Religionsfreiheit nichts als Lüge. Religion per se für intolerant zu erklären, scheint mir jedenfalls intolerant. Das Recht auf Irrationalität sollte jedem zugestanden werden, egal, ob es sich um einen orthodoxen Juden, eine feministische Muslima oder einen Schalke-Fan handelt. Auch wenn mir Letzteres als BVB-Fan extrem schwerfallen würde (lacht).

Opfer sprechen oft verwirrt. Wir dürfen das nicht vorschnell als unglaubwürdig abtun.

Philosophin und Kriegsreporterin: Carolin Emcke.
Philosophin und Kriegsreporterin: Carolin Emcke.
© Andreas Labes/S.Fischer

In Ihren Reportagen aus Kriegs- und Krisenregionen befassen Sie sich immer wieder mit den Opfern von Gewalterfahrung. Eine moralische Selbstverpflichtung?
Ja, vermutlich. Ich halte das allerdings für nichts Besonderes, und es irritiert mich stets ein wenig, dass heutzutage aus ethischen Selbstverständlichkeiten so ein Bohei gemacht wird. Ich bin als junge Europäerin ohne die Erfahrung von Krieg aufgewachsen, ohne wirkliche Not. Das ist Zufall, ein unverdientes Privileg, das ich auch als eine Verpflichtung empfinde.

Das Schweigen der Opfer und die Versprachlichung von Gewalterfahrung ist Thema Ihres Buchs „Weil es sagbar ist“. Was haben Sie darüber herausgefunden?
Dass Gewalt sich nicht nur in die Körper, sondern auch in die Sprache ihrer Opfer einschreibt. Als Reporterin sitze ich oft Menschen gegenüber, die keine lineare Geschichte mehr erzählen können. Wenn Opfer von Krieg und Gewalt erzählen wollen, wenn sie überhaupt wieder jemandem vertrauen, dann klingen sie oft verwirrt: Sie stottern, erzählen in Kreisen oder rückwärts. Wir, die Verschonten, die solche Gewalt nicht erlebt haben, dürfen das nicht vorschnell als unglaubwürdig abtun. Manches wollen wir auch für unglaubwürdig halten, weil es so schrecklich ist, dass wir es uns nicht vorstellen mögen.

Ein Beispiel?
Es war im Gaza-Streifen 2009. Palästinenser erzählten mir, dass die israelische Armee willkürlich einen Mann und seine Söhne beschossen hätte. Einer wurde schwer verletzt, doch die Soldaten erlaubten angeblich keinen Krankenwagen. Ich hielt das für so unwahrscheinlich, dass ich dem nicht weiter nachging. Am selben Abend mailte mir aber eine Freundin aus Washington zufällig genau diese Geschichte, sie kannte einen Bruder des Verletzten. Mein Misstrauen hat mich beschämt.

Sie sprechen vom Paradox der Zeugenschaft. Was meinen Sie damit?
Ich meine, dass das sogenannte „Unaussprechliche“ nicht unaussprechlich sein muss. Dass wir als Gesellschaft versuchen sollten, die Bedingungen herzustellen, damit Opfer zu erzählen wagen. Erzählen trotz allem ist möglich, so sehr es auch von Auslassungen, Angst oder Scham geprägt sein mag.

Der „Shoah“-Regisseur Claude Lanzmann sagte kürzlich in der „Zeit“, es gibt das Nichtzeigbare. Er habe einen ontologischen Konflikt bei der Frage, was Bilder und der Holocaust miteinander machen dürfen. Gibt es diesen Konflikt auch zwischen Sprache und Gewalt?
Gewiss. Ich muss auch abwägen: Was muss ich ausbuchstabieren, was kann, was muss ich nur angedeutet lassen? Die Frage ist: Schützt mein behutsames Nichterzählen wirklich die Opfer oder schont es nur die Täter? Das Risiko des Nur-Andeutens besteht darin, dass manche sich das Grauen schlicht nicht vorstellen wollen. Je genauer, je präziser, je feiner erzählt wird, desto weniger Fluchträume für moralisch Gleichgültige gibt es.

Verstümmelte Leichen, die friedlich aussehenden Giftgastoten in Syrien, sollen solche Bilder veröffentlicht werden?
Das lässt sich nur anhand der konkreten Bilder und ihrer Alternativen entscheiden. Ich fürchte, schockierende Bilder schockieren bloß und lassen die Betrachter emotional taubstumm zurück.

Vermag Sprache denn etwas, was Bilder nicht leisten können?
Ja. Und umgekehrt auch. Zu dem Schrecklichsten, was ich je gesehen habe, gehören Verbandswechsel bei Brandopfern. Oft reißen die Wunden wieder auf, oft sind keine ausreichenden Betäubungsmittel vorhanden, die Patienten stöhnen auf. Der Anblick ist unerträglich. Er lässt sich aber beschreiben. Das will zwar keine Redaktion gerne drucken. Aber das gilt es dann halt durchzusetzen. Weil Krieg nicht nur aus gelb-grünlichen Videoaufnahmen besteht, die Virtualität und Hygiene suggerieren, sondern aus diesem schmerzenden, schmierigen Elend wimmernder Menschen.

Angela Merkel erklärt nicht, begründet nicht: Die Kanzlerin pflegt eine Sprache des Schweigens.

Philosophin und Kriegsreporterin: Carolin Emcke.
Philosophin und Kriegsreporterin: Carolin Emcke.
© Andreas Labes/S.Fischer

Besteht auch die Gefahr der Verharmlosung durch allzu menschelnde Geschichten?
Eine wichtige Frage, auf die ich keine gute Antwort parat habe. Beides ist riskant: die allzu nüchterne Analyse der Strukturen von Gewalt, die niemanden umtreibt, und die allzu menschelnde Geschichte, die nur verkitscht, aber nichts aufklärt. Es gilt, auch die hiesigen medialen Muster und ideologischen Erwartungen zu bedenken – und sie möglichst zu unterwandern. Wenn es Regionen gibt, die bei uns nur über ihre offiziellen Repräsentanten abgebildet werden, dann versuche ich, die Figuren zu finden, die quer zu den dogmatischen Positionen denken und leben.
Warum benutzen Sie in Ihren Büchern oft die Ich-Form?

Lustigerweise lese ich nicht gerne "Ich"-Texte. Es braucht für diese subjektive Form einen hinreichenden Grund. Wer die Tabus der anderen oder das ideologische Denken in Kollektiven kritisiert, muss selbst auch bereit zu sein, sich durch das "Ich" angreifbar zu machen. Für mich ist das "Ich" ein Form des Offenlegens der eigenen Position, der eigenen Schwächen - letztlich eine Frage der Ehrlichkeit als Publizistin.

Mitleid ist nicht grenzenlos möglich. Sie reisen wieder ab, die Menschen bleiben im Elend zurück. Wie kommen Sie mit diesem Dilemma zurecht?
Gar nicht. Es bleibt ein moralisches Dilemma. Ich kann nur so viel wahrnehmen, reisen und schreiben, wie ich kann. Realistisch gesehen, würde ich gewiss nicht mehr helfen, wenn ich dort bliebe. Durch das Pendeln zwischen den Welten kann ich aber auch etwas tun, worauf es ankommt: Übersetzen zwischen hier und dort, „uns“ und „den anderen“.

Sie berichten häufig aus dem Nahen Osten, Irak oder Afghanistan. Als Sie zum ersten Mal am Euphrat standen, im Land der Bibel, fühlten Sie sich angekommen. Haben Sie etwa als Kind viel die Bibel gelesen?
Ja. Nicht, weil meine Familie besonders fromm gewesen wäre, sondern wegen der atemberaubenden Geschichten. Für andere ist es die griechische Mythologie, aus denen sie ihre Assoziationen schöpfen, bei mir sind es die Figuren und Erzählungen des Alten Testaments. Für meine politisch-moralische Sozialisation ist außerdem das Nachdenken über die Shoah zentral. Mir scheint, dass das gesellschaftlich Beschwiegene bis in die dritte Generation weitergereicht wurde, der Opfer wie der Täter. Manche Spuren der ererbten Trauer und Tabus werden erst jetzt sichtbar. Mein Vater verdrehte noch lange nach dem Krieg immer den Sender, wenn er das Radio ausschaltete. Als wollte er sich, Jahrzehnte nach Ende der Nazi-Diktatur, nicht beim "Feindsender"-Hören erwischen lassen. Mit dieser Handbewegung bin ich aufgewachsen.

Wie begegnen Sie denn Tätern?
In meinen Auslandsreportagen schreibe ich tendenziell eher über Opfer. Die Ausnahme war eine sehr lange Recherche über einen der Folterer aus Abu Ghraib, Ivan Frederick. Dabei ging es mir nicht um dessen Psyche, sondern um die Struktur der US-Armee und ihrer privaten Sicherheitsdienste, die aus einem „gewöhnlichen“ Menschen einen brutalen Folterer fabrizieren konnten.

Sie sagen, auch die Täter müssen sprechen. Ihr Patenonkel Alfred Herrhausen wurde von der RAF ermordet, trotzdem haben Sie die Forderung „Freiheit gegen Wahrheit“ erhoben und sich wenig Freunde gemacht.
(lacht) Wer über die RAF schreibt, egal aus welcher Perspektive, macht sich nie Freunde. Ich will Gewalt nicht einfach als historisch akzeptieren. Ich will verstehen, wie und warum sie entstanden ist, um zu begreifen, wie sie hätte vermieden werden können. Wenn eine Gesellschaft nur verurteilen, aber nicht verstehen will, kann sie sich nicht ändern. Welche Möglichkeiten hatte ein Terrorist, sich auch anders zu entscheiden? Meines Erachtens gibt es nur ein Buch über die RAF, das all das leistet, Ulrike Edschmids „Verschwinden des Philipp S.“. Ich will den rückwärtsgewandten Konjunktiv denken können, übrigens auch bei der Genese des Guten. Es gab einen Soldaten in Abu Ghraib, der sagte einfach Nein, als er aufgefordert wurde, die Gefangenen zu demütigen. Er trägt kurioserweise den Namen Matthew Wisdom.

Während des Wahlkampfs haben Sie die Sprache von Angela Merkel analysiert. Mit welchem Ergebnis?
Sie arbeitet mit Nichtthematisierung. Dabei braucht eine Demokratie das, was Philosophen reasonable disagreement nennen. Es gibt Phänomene, bei denen man mit guten Gründen unterschiedlicher Überzeugung sein kann. Diese Überzeugungen müssen thematisiert und erläutert werden. Ich weiß, dass Merkel die Bilder aus Fukushima entsetzten, aber letztlich nicht, warum sie für den Atomausstieg war. Ich weiß nicht, warum sie beim NSA-Skandal erst reagiert hat, als bekannt wurde, dass auch ihr Handy abgehört wird. Sie ist eine Kanzlerin des Schweigens – ein Politikstil, der öffentliche Lähmung nach sich zieht.

Am 4. Dezember liest Carolin Emcke im Literarischen Colloquium aus ihrem Buch "Weil es sagbar ist" und diskutiert mit Herfried Münkler (20 Uhr). Für die Berliner Schaubühne moderiert sie den monatlichen Streitraum. Am 8. 12. geht es darin um Antisemitismus in Europa: Emcke diskutiert mit Uwe-Karsten Heye und Stefanie Schüler-Springorum (12 Uhr). Für Februar bereitet sie eine dreitägige Veranstaltung im Haus der Kulturen der Welt vor, bei der Zeithistoriker, Wissenschaftler, Schriftsteller und Soldaten darüber reden, wie sich vom Krieg erzählen lässt.

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