100 Jahre "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit": Marcel Proust: Ekstasen der Erinnerung
Vor 100 Jahren erschien der erste Band von Marcel Prousts Monumentalwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Zum Jubiläum hat Bernd-Jürgen Fischer eine Neuübersetzung vorgelegt.
Als heute vor genau hundert Jahren der erste Teil von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ erscheint, „Du côté de chez Swann“, hält sich die Resonanz bei einer Auflage von 1750 Exemplaren in den engen Grenzen des Pariser Kulturbetriebs – obwohl gleich drei Zeitungen und Magazine die Veröffentlichung mit Auszügen flankieren, Proust mehrere lange Interviews führt und an die Presse vorab 400 Exemplare gehen. Es gibt noch keine hypernervöse Literaturkritik, die wichtige Bücher bevorzugt Tage oder Wochen vor ihrer Veröffentlichung feiert oder in Grund und Boden kritisiert.
Auf dem Umschlag der Erstausgabe steht als Erscheinungstermin 1914: womöglich ein Druckfehler, womöglich ein von Prousts Verleger Grasset bewusst vorausschauend anvisierter Termin, schließlich hat sich sein Autor immer wieder durch neue, verzögernde Umarbeitungen und Korrekturen hervorgetan. Und in der literarischen Welt scheint es das Werk gefühlt sowieso schon eine Weile zu geben. Proust ist seit 1912 dabei, es anzupreisen, in Briefen an Freunde, Bekannte und Kollegen, auch weil er einen Verleger sucht, was sich als schwer herausstellen sollte. Nicht zuletzt hatte der „Figaro“ im März, Juni und September 1912 auf seiner Titelseite Auszüge aus dem Buch gedruckt.
Natürlich freut sich Proust, als die ersten lobenden Besprechungen kommen, von dem jungen Jean Cocteau, von seinem Freund Lucien Daudet. Auch weniger positive sollen folgen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob für ihn selbst, für den Leben und Schreiben immer mehr eins geworden waren, die Veröffentlichung eine wirklich so einschneidende Bedeutung hatte.
Es ging Proust um nichts weniger als die Aufhebung der Zeit, also des Todes
Ist der 14. November 1913 für den damals 42 Jahre alten Schriftsteller nicht doch einfach nur einer von vielen, nicht mehr als einer simplen Chronologie folgenden Tagen gewesen? Zum einen wegen der komplizierten Entstehungsgeschichte der „Recherche“ und ihrer Fortsetzung in den folgenden Jahren, die vom Ersten Weltkrieg und von wichtigen privaten Ereignissen maßgeblich bestimmt wurde. „Zwar ist alles geschrieben“, so Proust im Dezember 1913 in einem Brief, „aber es muss alles nochmals überarbeitet werden.“ So nahm er noch kleine Änderungen in der Neuauflage des ersten Bandes vor, die 1919 bei Gallimard erschien. Der Umfang der ursprünglich auf drei Bände angelegten „Recherche“ sollte sich bis zum Tod Prousts am 18. November 1922 noch einmal verdoppeln und auf sieben Bände anwachsen.
Zum anderen ging es Proust mit seinem kunstreligiöse Züge tragenden Werk um nichts weniger als die Aufhebung der Zeit, letztendlich des Todes. Um Erkenntnisse wie diese, aus der „Wiedergefundenen Zeit“, des Schlussteils der „Recherche“: „Eine aus der Ordnung der Zeit herausgehobene Minute hat in uns, damit er sie erlebe, den von der Ordnung der Zeit befreiten Menschen erschaffen.“ Das spielt auf die plötzlichen, der Vergangenheit genauso wie der Gegenwart angehörenden Wahrnehmungen des Erzählers an, auf seine unwillentliche Erinnerungstätigkeit. Dazu gehören der Geschmack der berühmten, in den Tee getunkten Madeleine, die so etwas wie ein Synonym für Proust und sein Werk geworden ist. Aber eben auch das Geräusch eines gegen einen Teller geschlagenen Löffels, der Duft der Weißdornhecke oder die unebenen Pflastersteine in Venedig und im Hof der Guermantes. „Und dieser Mensch – wie gut kann man verstehen, dass er Vertrauen zu seiner Freude fasst, selbst wenn der Geschmack einer Madeleine nicht logischerweise die Gründe für diese Freude zu enthalten scheint, verstehen auch, dass das Wort Tod keinen Sinn für ihn hat; was könnte er, der Zeit enthoben, von der Zukunft fürchten?“
Viele Motive finden sich schon in einem frühen Buch von 1896
Es lässt sich nicht genau bestimmen, wann Proust die Idee für seine „Suche nach der verlorenen Zeit“ kam; ab wann genau sein Leben zu einem Roman wurde und dieser sein ganzes Leben zu beherrschen begann. Allein in seinem ersten Buch „Freuden und Tage“, erschienen 1896, finden sich viele Motive, Themen und Situationen der „Recherche“ wie einseitige, schuldhafte und homosexuelle Liebe. Oder jene, die bald ihr Ende finden und den Gestaden des Vergessens anheimfallen wird. Die Problematik des Einschlafens, das Warten auf den Gutenachtkuss der Mutter, die Vielgestaltigkeit des Aufwachens, die Angst im Hotelzimmer. Oder Porträts von Malern, Komponisten und der mondänen Welt. Auch der Fragment gebliebene, 1899 aufgegebene Roman „Jean Santeuil“ stelle, so Proust-Biograf Jean-Yves Tadié, die Fragen des knapp zehn Jahre später begonnenen Romanessays „Gegen Saint-Beuve“ und der „Wiedergefundenen Zeit“: Welches sind, fragt Tadie mit Proust, „die geheimen Beziehungen, die notwendigen Metamorphosen zwischen dem Leben des Schriftstellers und seinem Werk, zwischen der Realität und der Kunst, oder vielmehr, wie wir damals dachten, zwischen den Erscheinungen des Lebens und der Realität selber, die deren dauerhaften Boden ausmachte und die die Kunst freigelegt hat?“
Vom berühmten Eröffnungssatz sind 16 Varianten bekannt
Beim Schreiben von „Gegen Saint- Beuve“ 1908 und 1909 wird Proust gewahr, dass ihm das Autobiografische stets auch in einem klassischen Essay in die Quere kommen wird, das Diskursive und die Fiktion sich aber nicht ausschließen müssen. In dem erst 1954 lange nach seinem Tod erschienenen Essay setzt sich Proust zunächst mit dem 1869 verstorbenen Literaturkritiker Charles-Augustin Saint-Beuve auseinander, fügt aber zunehmend mehr narrative Teile ein, beginnend mit der Erinnerung an ein vom Lärm und vom Licht gut abgeschirmtes Zimmer: „Bis zum Alter von zwanzig Jahren schlief ich die ganze Nacht mit kurzen Unterbrechungen“, kann man da als ersten Satz in „Entwürfe zu einer Ouvertüre“ lesen. Oder: „Manchmal schlief ich ganz plötzlich ein, ohne den Gedanken zu fassen, das ich einschlief.“ Daraus wurde schließlich der berühmte „Recherche“-Beginn, „Longtemps je me suis couché de bonne heure“, „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“, auf den als zweiter Satz folgt: „Manchmal, wenn ich noch kaum die Kerze ausgelöscht hatte, schlossen sich meine Augen so schnell, dass ich nicht mehr die Zeit hatte, mir zu sagen: ,Jetzt schlafe ich ein‘“.
Manches wirkt in der neuen Übersetzung frischer, anderes nur anders umständlich
Von der „16. Variante“ des Eröffnungssatzes spricht der Berliner Philologe Bernd-Jürgen Fischer in seiner gerade erschienenen Neuübersetzung von Prousts Romanwerk, „die endgültige Form findet sich 1911 in der dritten Überarbeitung von ,Combray‘“, so Fischer weiter. Wie Eva Rechel-Mertens in ihrer ersten vollständigen deutschen Übersetzung aus den fünfziger Jahren und zuletzt Luzius Keller in seiner revidierten Frankfurter Ausgabe befindet sich natürlich auch Fischer in einem ständigen Kampf mit der für Proust typischen syntaktischen Uferlosigkeit und Komplexität. Mancher Satz scheint jetzt frischer, klarer zu wirken, mancher einfach nur anders umständlich. Als deutschsprachiger Leser darf man sich aussuchen, was man schöner und richtiger findet. Wenn etwa die Madeleine nach dem zehnten Versuch endlich ihre Wirkung zeitigt: „Und dann mit einem Male war die Erinnerung da.“ (Rechel- Mertens) „Und dann ganz plötzlich ist mir die Erinnerung erschienen.“ (Fischer) Letzteres ist wortwörtlich übersetzt, im Original lautet es „Et tout d’un coup le souvenir m’est apparu“ – aber man stutzt im Vergleich schon: eine Erinnerung, die „erscheint“?
An dem schönen, ein Leseleben durchaus verändernden Zauber des Originals ändern solche Nuancen wenig. Wieder einmal ist man bei der Lektüre verblüfft, gerade in Kenntnis des Gesamtwerks, wie hier zu Beginn alle an das Ende führenden Fäden ausgelegt werden. Viel ist die Rede von den Schauplätzen Combray und Paris, aber auch die später erst wichtig werdenden Stationen des Erzählers werden schon genannt, Balbec, Doncières und Venedig. Der Name von Charlus fällt, der des Schneiders Jupien, der von Gilberte, die der kleine Marcel auch flüchtig sieht (und in die er sich allein deshalb verliebt, weil sie mit dem Schriftsteller Bergotte bekannt ist); ahnungsvoll werden die beiden Wege der Spaziergänge nach Méséglise und Guermantes beschrieben, die sich eines Tages als ein Weg herausstellen. Es sind Täuschungen, Träume und Illusionen, die den jungen Marcel bedrängen und beseelen, die „Recherche“ erzählt von Beginn an ihre eigene Entstehungsgeschichte. Das Glück, das der erwachsene Erzähler am Ende während seiner Erinnerungsekstasen empfindet, ist auch das Glück des Proust-Lesers.
Marcel Proust: Auf dem Weg zu Swann. Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer. Reclam Verlag, Stuttgart 2013. 695 Seiten, 29,95 €
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