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Grigory Sokolov, 65, wird als größter lebender Pianist gefeiert. Zum Glück tangiert ihn das nicht.
© picture alliance / dpa

Grigory Sokolov in der Philharmonie: Endlos das Firmament

Er geht weder ins Aufnahme- noch ins Fotostudio. Für viele ist er der Größte: Ausnahmepianist Grigory Sokolov in der Philharmonie

Es ist seltsam, dass diese Zeit, in der alle immer auf allen Kanälen senden müssen, ihn jetzt doch noch zum Star machen will. Einen, der sich radikal beschränkt, um frei sein zu können. Der keine Spielchen spielt, um sein Spiel zu retten. Gerade ist Grigory Sokolov 65 Jahre alt geworden, und noch nie war ihm die Öffentlichkeit so sehr auf den Fersen. Es reicht nicht mehr, dass die, die seine Konzerte hören – ausschließlich solo und nur ein Programm pro Saison – ihn für den größten lebenden Künstler am Klavier halten. Der gebürtige St. Petersburger, der prinzipiell keine Interviews gibt, soll seine Kunst plötzlich erklären.

Ein Fluch dessen, Exklusivkünstler der Deutschen Grammophon geworden zu sein, obwohl er niemals ins Aufnahme- oder ins Fotostudio gehen würde. Unlängst erschienen ist der Mitschnitt eines Konzerts in Salzburg 2008, den der penible Pianist nun freigegeben hat, zur Freude seines Managers, der die Auftritte seit Langem aufzeichnen lässt, eine weitere Veröffentlichung steht wohl bevor. Sokolov, der Jahr für Jahr seine einsame, leuchtende Spur durch die Konzertsäle zieht, wird verfügbar.

Um die Philharmonie auszuverkaufen, braucht Sokolov keinen Plattenriesen im Rücken. Mit jeder Saison wuchs sein Ruf in der Stadt, und irgendwann war der Kammermusiksaal einfach zu klein für die, die ihn hören wollten. Jetzt feiern sie ihn mit frenetischem Auftrittsapplaus, obwohl sie genau wissen, dass er darauf keineswegs reagieren wird. Auch das Toben zum Schluss wird nur ein Nebengeräusch sein bei den zweieinhalb Stunden, die Sokolov immer spielt, in drei Halbzeiten inklusive stets exakt sechs Zugaben.

Dieses Bühnengerüst hat sich Sokolov geschaffen, es trägt ihn zuverlässig und ganz handfest, wie auch das heruntergedimmte Licht nicht etwa eine kunstreligiöse Haltungen befördern will. Es soll einfach nur um die Musik gehen – und das scheint derart ungewöhnlich, dass man Sokolov gern zu einer Art Klassikmönch stilisiert. Doch welcher Orden würde schon einen aufnehmen, der in Bachs Partita Nr. 1 eine derart aberwitzige Freiheit der Stimmen feiert. Der, sich in Trillern fast verlierend, doch jeder Wendung noch einen artistischen Schubs geben kann. Der der Schwerkraft so umfassend trotzt. Und dessen Finger tanzen, mehr, als wir es dem Komponisten selbst jemals zugetraut hätten.

Mit seinen stupenden pianistischen Fähigkeiten stellt Sokolov auch tiefschürfende Kollegen in den Schatten, weil er weiter vordringt, dahin, wo die Musik nichts mehr beweisen muss. Ob Bach, Beethoven oder Schubert – die Werke, die sich Sokolov als Gefährten für ein Jahr wählt, klingen alles andere als klassisch gesetzt. In seiner unendlich feingliedrigen Kunst leuchtet auf, dass große Musik immer widerständig ist, sich frei machen und herausfordern will.

Wie lehrmeisterlich gedrungen klingt doch im aktuellen Hörvergleich der Schubert von András Schiff (am vergangenen Mittwoch in der Staatsoper), wenn man erlebt, wie Sokolov die Fliehkräfte der a-Moll-Sonate D 784 freisetzt. Das reicht über individuelles Trauern weit hinaus, ist mehr als Grimm. Endlos das Firmament, das sich über den Mann am Steinway spannt. In seinen Moments musicaux funkelt Ewigkeit.

Der Termin für den nächsten Berliner Auftritt steht schon fest, es ist der 12. Mai 2016. Das Programm wird, wie immer, zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben. Grigory Sokolov, das ist sicher, bleibt, was er ist. Seine Kunst erlaubt uns zu ermessen, was aus uns geworden ist in der Zwischenzeit.

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