Welcher Konzertsaal klingt besser?: Elbphilharmonie und Berliner Philharmonie im großen Klassik-Vergleich
Dieselben Interpreten, dieselben Stücke, aber zwei verschiedene Säle. Ein Akustik-Experiment in der Hamburger Elbphilharmonie und der Berliner Philharmonie.
In der Hitparade der menschlichen Sinne belegt das akustische Wahrnehmungsvermögen nur einen der hinteren Plätze. An erster Stelle steht eindeutig das Sehen, dann folgt, je nach persönlicher Veranlagung, Schmecken und Fühlen, um das Schlusslicht streiten sich Riechen und Hören.
Nur allzu leicht lässt sich das Ohr darum durch die Optik eines Ortes korrumpieren: Betritt der Klassikfan beispielweise einen historischen Saal und sieht sich umgeben von geschnitztem Holz, blickt auf Karyatiden und Komponistenbüsten, die durch prächtige Kristalllüster beschienen werden, dann stellt sich das Trommelfell unbewusst darauf ein, hier gleich etwas besonders Festliches zu hören: ewig gültige Kunst, dargeboten von respektvollen Interpreten, vielleicht gar eine ersatzreligiöse Weihefeier, die zugleich erhaben wirkt und erhebend.
Das Ambiente weckt eine Erwartungshaltung, die anschließend die Wahrnehmung des Erlebten steuert. Ist objektives Hören also gar nicht möglich? Hat die Akustik eines Konzertsaales womöglich einen geringeren Einfluss auf die Wahrnehmung einer künstlerischen Darbietung als dessen Design? Weil auch die Musikerinnen und Musiker selber in einem altehrwürdigen Musentempel anders spielen als in einer modernen Halle?
Jan Lisiecki, der 24-jährige kanadische Pianist, bekennt sich dazu, besonders gerne in historischen Hallen zu musizieren. „Ich genieße es, wenn die Musik schön und warm klingt, wenn der Klang die Hörer einhüllt“, schwärmt er. „Und es ist großartig zu wissen, dass die alten Meisterwerke, die ich spiele, hier schon erklangen, als sie noch zeitgenössische Musik waren.“
Gleichzeitig hat er bei seinen Auftritten, die ihn durch die ganze Welt führen, auch beobachtet, dass in ganz frisch eröffneten Sälen eine besondere Begeisterung zu spüren ist: „Die Leute finden das neue Haus so spannend, dass allein schon dadurch eine besondere Atmosphäre entsteht.“
Wer es barock mag, hat es in Hamburg schwer
Von der Neugier getrieben werden auch immer noch sehr viele Besucher der Hamburger Elbphilharmonie. Seit der Eröffnung des spektakulären Solitärs in der Hafencity ist hier kollektive Entdeckerfreude das vorherrschende Gefühl. Aber es gab natürlich auch Kritik.
Die sehr nüchternen Foyers, die eher nach Universitätsbibliothek aussehen als nach Prestigebau, muss man mögen. Ebenso wie die Eierkartonhülle des Saales, jene „weiße Haut“ aus Gipsfaserplatten, in die nach Computerberechnungen exakt 999 987 Schallrillen gefräst wurden.
Menschen, die eher einer barocken Ästhetik zugeneigt sind, werden diesen futuristischen Raum als kühl-nordisch empfinden, als streng und protestantisch. Und mit ihm den Klang.
Weil das Auge ihr Ohr leitet. Tatsächlich aber ist die Sache natürlich viel komplizierter. Jan Lisiecki hat am vergangenen Samstag seinen zehnten Auftritt in der Elbphilharmonie absolviert. „Auch wenn es heißt, dass die Akustik hier gerade für Pianisten sehr vorteilhaft ist, musste ich mich erst an den Saal gewöhnen“, gibt er offen zu. Als Prozess des „langsamen Hineinwachsens“ beschreibt er diese Annäherung.
Jan Lisiecki musste sich an die Elbphilharmonie erst gewöhnen
„So richtig zufrieden war ich aber erst im vergangenen Dezember, als ich mit der Academy of St Martin in the Fields hier Klavierkonzerte von Beethoven gegeben habe“, erzählt er dann. „Weil das Ensemble klein besetzt ist, konnten wir den Flügel vom vorderen Bühnenrand, wo er bei voller Orchesterstärke zwingend stehen muss, mehr in die Mitte rücken.“
Mit einem frappierenden Ergebnis: „Dort war der Klangeindruck plötzlich ein völlig anderer, weil jetzt nämlich meine Töne vom Bühnenboden reflektiert werden konnten, statt einfach nur in den Saal zu entschwinden.“
Als Interpret konnte er nun den Nachhall körperlich spüren. Was für Musikerinnen und Musiker elementar ist. Akustik hat für sie zwei Komponenten: Einerseits geht es darum, wie hallig oder trocken ein Raum klingt. Das spüren auch die Besucher. Ebenso wichtig ist für die Ausführenden aber auch, wie gut sie sich gegenseitig während der Aufführung hören können. Nur dann nämlich kann die nonverbale Kommunikation auf der Bühne funktionieren.
Zwei Konzerte, zwei sehr unterschiedliche Hörerlebnisse
Durch eine Tournee von Jan Lisiecki mit dem Orpheus Chamber Orchestra aus New York ergab sich jetzt die Möglichkeit, für ein Experiment. Für einen direkten Hörvergleich zwischen der Elbphilharmonie und der Berliner Philharmonie. Denn sowohl Mendelssohns 1. Klavierkonzert als auch dessen „italienische“ Sinfonie standen in beiden Städten auf dem Programm.
Die zwei Säle sind nach dem Weinbergprinzip gebaut, bei dem das Publikum rund um die Bühne gruppiert ist. Und an beiden Abenden saß der Testhörer frontal zur Bühne, mit identischem Abstand zu Flügel und Kammerorchester, in Berlin vorne in Block B, in Hamburg in der vierten Reihe des Bereichs E. Und doch waren die Hörerlebnisse verblüffend unterschiedlich.
Geradezu blendend brillant klingt das Klavier in Hamburg. Der Solist steht hier absolut im Mittelpunkt, Jan Lisiecki kann seine Fähigkeiten als Klang-Beleuchter voll ausreizen: Wie er mit Hell-Dunkel-Effekten arbeitet, wie er die harmonischen Entwicklungen der Musik auch für Laien leicht nachvollziehbar macht, indem er unterschiedlich lange Schatten auf die Töne fallen lässt, begeistert. Er ist hier der Impulsgeber, das Orchester seine freundliche Begleitung.
In Berlin dagegen erscheint Mendelssohns 1. Klavierkonzert viel stärker als Gemeinschaftsleistung, weil Lisieckis Virtuosität hier in den Orchesterklang eingebettet ist, Solist und Ensemble zur Einheit verschmelzen. Nach der Elbphilharmonie-Erfahrung überwältigt Hans Scharouns Saal den Hörer geradezu. So elegant und edel entfaltet sich hier der Wohlklang, dass man körperlich zu spüren meint, wie die Schallwellen von der Bühne in den Saal fluten.
Das Orchester entfaltet sich in Berlin ideal
Das Orpheus Chamber Orchestra präsentiert sich mit einer Noblesse, wie man sie sich in einem reich verzierten barocken Saal nicht prachtvoller wünschen könnte. In Hamburg dagegen mussten die Amerikaner den ganzen Abend lang um die richtige Klangbalance ringen. Die Hörner knallten dort grundsätzlich heraus, Nebenstimmen der Holzbläser oder Trompeten waren oft zu präsent, im zweiten Satz der „Italienischen“ von Mendelssohn marschierten die Celli und Kontrabässe deutlich zu dominant voran.
In Berlin hingegen geht genau der angemessene Impuls von ihnen aus. So wie auch die Streicher in ihrer Gesamtheit bei der Sinfonie nicht zu dünn besetzt wirken, im Klangvolumen den Bläsern unterlegen. Dieses in Hamburg aufgetretene Problem gibt es in der Scharoun’schen Philharmonie nicht.
Hier stehen die Instrumentalgruppen in genau dem richtigen Verhältnis zueinander, fügen sich zum perfekten Mischklang. Und sogar die Pauke, zu der man sich in Hamburg das Adjektiv „knackig“ notiert hatte, klingt hier ausgewogener, ja geradezu aristokratisch.
Das Zwiegespräch zwischen den Celli und den Bratschen im langsamen Satz des Klavierkonzerts jedoch hatte in Hamburg mehr Präsenz, wirkte unmittelbarer. Was zu Jan Lisieckis Beobachtung passt: „Der Vorteil in Hamburg ist, dass man nicht so laut spielen muss. Dass sich das Leise problemlos entfaltet.“
Auf eine Entscheidung für Berlin oder Hamburg als Favoriten will sich der kluge Künstler natürlich nicht einlassen. Lieber singt er das Lob der Diversität: „Ich mache deshalb so gerne Tourneen mit Orchestern, weil ich dadurch viele verschiedene Säle erlebe – und in jedem klingen die Werke anders. Das ist doch eine sehr angenehme Herausforderung!“
Sicher, nur bringt es dieses Hörexperiment zu keinem klaren Abschluss. Ein unangefochtener Sieger, ein deutlicher Verlierer gehen aus dem Experiment nicht hervor. Die Welt der Akustik bleibt ein rätselhafter Mix aus Mathematik und Magie: Hier steh ich nun, ich armes Ohr, und bin so klug als wie zuvor.