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Michael Keaton (l.) und Edward Norton als abgehalfterte Superhelden-Darsteller.
© Labiennale

Eröffnung der 71. Filmfestspiele in Venedig: Die andere Hälfte der Wahrheit

Mit Alejandro Iñárritus Superhelden-Komödie „Birdman“ eröffnen die 71. Filmfestspiele von Venedig. Der Wettbewerb um die Weltpremieren wird unterdessen immer härter.

Der Palazzo del Cinema hat sich eine Galarobe aus roten XXL-Pailletten übergeworfen. Das Blendwerk passt gut zur Eröffnung der 71. Filmfestspiele Venedig, denn mit Provisorien hat man hier Übung. Es geht ja nicht anders. „Il grande buco“, das seit der Grundsteinlegung für den neuen Festivalpalast 2008 klaffende, gewaltige Mafia-Bauskandal-Loch am Lido, wuchert allmählich zu. Sogar Bäume wachsen hier wieder, das freut die Umweltschützer, die gegen das Abholzen des alten Baumbestands protestiert hatten.

Biennale-Präsident Paolo Baratta tritt seinerseits die Flucht nach vorne an und freut sich über die Sechs-Millionen-Euro- Renovierung der Sala Darsena, jenes einstigen, längst überdachten Freiluftkinos hinter dem alten Festivalpalais. Ehrlich gesagt, der nun 1400 statt 1300 Sitzplätze zählende und mit modernstem Dolby- Schnickschnack ausgestattete Saal sieht trotz besserer Bestuhlung kaum anders aus. Aber man guckt ihn sich gerne schön.

Alles eine Frage der Perspektive. Mit Venedig beginnt der Reigen der internationalen Herbstfestivals, die sich um die Oscar-Anwärter balgen. Am Freitag startet das exquisite Festival in Telluride/Colorado, nächste Woche folgt Toronto. Die Konkurrenz um die Weltpremieren wird härter: Das kleine New Yorker Filmfestival schnappte Venedig die neuen Filme von David Fincher und Paul Thomas Anderson weg; in Telluride erblickten mit „Slumdog Millionaire“, „The King’s Speech“, „Argo“ und „12 Years a Slave“ seit 2009 vier Oscar-Gewinner das Licht der Welt. 2013 liefen gleich zwei Wettbewerbsfilme kurz vor der Lido-„Weltpremiere“ in Telluride, was Venedigs Festivalchef Alberto Barbera erboste.

Geld regiert die Filmwelt - nur am Lido nicht

Diesmal erklärt Barbera, man wolle keinen Festivalkrieg. Es handele sich um ein generelles Problem, um die immer mächtigere, zerstörerische Marketingindustrie. Festivals und Preise sind Bestandteil der Promotionsmaschinerie, es geht um viel Geld. Stars nach Venedig fliegen, hier die Release-Party schmeißen, das kostet ein Studio schon mal eine Million Dollar – und hilft nur der Vermarktung in Europa. Also gehen englischsprachige Produktionen lieber in den USA an den Start, nach exakt kalkulierten Plänen. „Das System wird immer fragiler und ist von neurotischen Leuten bevölkert“, sagt Barbera. Geld regiert die Filmwelt, bloß am Lido nicht, wünscht sich der Chefs. Hier gelte es nicht dem Kommerz, sondern der Kunst. Ein bisschen klingt es wie das Pfeifen im Wald.

Die Festivalleiter haben sich jedenfalls zusammengesetzt und geeinigt. „Birdman“, der Eröffnungsfilm, läuft auch in Telluride und New York, aber später. So hat Venedig nun den Hype um die begehrte erste Komödie des Tragödien-Regisseurs Alejandro González Iñárritu („Babel“), der im Januar in die deutschen Kinos kommt. Um Michael Keaton in der Rolle des abgehalfterten Superhelden-Stars Riggan Thomson, der ein Comeback als seriöser Theaterschauspieler und Regisseur versucht. Und um seine Co-Stars Edward Norton, Emma Stone und Andrea Riseborough, die am Mittwoch auf dem roten Teppich erwartet wurden.

"Birdman", ein Super-Eröffnungsfilm für den Wettbewerb

Abgehalftert oder verkannt? Alles eine Frage der Perspektive. „Birdman“ ist ein Super-Eröffnungsfilm für den Wettbewerb mit 19 weiteren Löwen-Anwärtern, geht es in dieser rasanten New Yorker Broadway-Tragikomödie doch um alles, was Kino ausmacht. Um Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Obsession und Autosuggestion, darum, ob wir glauben, was wir sehen. Zum Beispiel, ob Michael Keaton tatsächlich in Feinripp-Unterhosen im Yogasitz in seiner Garderobe schwebt. Ob dieser Riggan per Zauberhand Dinge bewegen und einen Bühnenscheinwerfer auf einen Kollegen herabstürzen lassen kann, kaum dass sein „Birdman“-Schatten ihm mit sonorer Stimme einheizt. Ob er in New Yorks Straßenschluchten mal eben eine Action-Horror-Kracherszene herbeischnipst oder unter Wahrnehmungsstörungen leidet. Und ob Kameramann Emmanuel Lubezki, der schon in „Gravity“ die Welt ins Trudeln brachte, den Zweistunden-Film tatsächlich in einer einzigen Einstellung drehte.

Nein, hat er nicht. Aber die Filmschnitte sind virtuos kaschiert. Von der ersten Sekunde an reißt der Bildersog mit, durch Flure, Werkstätten, Hinterbühnen, eine Endlos-Odyssee im Bauch der Fiktion. „Truth or dare“, Wahrheit oder Pflicht: Riggan spielt mit seiner Tochter (Emma Stone) das Partyspiel, und man weiß nie, was einer wählt. Wie viel echter Michael Keaton, dem bis heute das Batman-Image anhaftet, steckt in Birdman? Ist auch nur eine einzige Träne echt, ein einziges Bekenntnis, ein einziger Auftritt hinter den Kulissen? Machen sich diese Drama-Queens und -Kings alle etwas vor, einschließlich Naomi Watts, die einen noch nicht ganz so abgehalfterten Star (Edward Norton) als Ersatz für den Scheinwerfer-lädierten Kollegen anschleppt?

Am Ende siegt die Fantasie

Norton und Keaton, zwei Sparringspartner mit Super-Ego. Sie übertreiben gnadenlos, jede Dialogzeile eine Kampfansage. Iñárritu, dieser Berserker von einem Filmemacher, hat dem Publikum seit seinem Debütfilm „Amores Perros“ Heimsuchungen beschert, mit den ganz großen Fragen von Leben und Tod, Schuld und Sühne behelligt. Jetzt befragt er das eigene Metier, zum Mahler-Tschaikowsky-Rachmaninoff-Soundtrack, mit gleicher Verve und Unerbittlichkeit. Und mit gehörigem Witz.

Wahrheit oder Pflicht? Am Ende siegt die Fantasie, nicht nur hier. Auch Peter Bogdanovich hat seinen Film „She’s Funny That Way“ am Broadway angesiedelt; auch Al Pacino wird am Lido als abgehalfterter Schauspieler auftreten, in Barry Levinsons Philip-Roth-Verfilmung „The Humbling“ (beide außer Konkurrenz). Der Rest ist Krieg. Mit Ethan Hawke als Drohnenspezialist in Afghanistan („Good Kill“), mit Joshua Oppenheimer in Indonesien, mit Mohsen Makhmalbaf im Kaukasus („The President“), mit Viggo Mortensen in Algerien („Loin des hommes) und mit Fatih Akin in Armenien. „The Cut“, der deutsche Wettbewerbsbeitrag über den Völkermord vor 100 Jahren, feiert am Sonntag Premiere.

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