Zum Tod der britischen Rocklegende Joe Cocker: Eine Stimme wie heiße Lava
Joe Cocker tauchte 1968 in den Hitparaden auf wie ein Orkan. Der gelernte Klempner stieß Töne aus wie nie ein Rock-, Soul- oder Bluessänger zuvor. Sie kamen aus der Tiefe seines Körpers. In der Nacht auf Montag ist die Rocklegende im Alter von 70 Jahren verstorben.
Es heißt, der amerikanische Psychologe Arthur Janov habe den „Primal Scream“ erfunden. Es war im Jahr 1970, als er sein gleichnamiges Buch veröffentlichte und eine spezielle Therapie entwickelte. Janov wurde in der Pop-Kultur schnell eine Bezugsgröße. Doch es gibt ein älteres Patent auf den Urschrei. 1968 war ein Mann aus Sheffield mit einer Beatles-Coverversion in den Hitparaden aufgetaucht wie ein Orkan: Joe Cocker. Der gelernte Klempner stieß in „With a Little Help From My Friends“ Töne aus wie nie ein Rock-, Soul- oder Bluessänger zuvor. Sie kamen aus der Tiefe eines Körpers, der Kontakt mit der brodelnden Lava im Erdinneren zu haben schien. A star was born, mit einem Schrei, der ihn selbst hinwegfegen sollte.
Joe Cockers Auftritt beim Woodstock-Festival 1969 war eine Sensation. Bald darauf brach er zu einer Megatour durch die USA auf, die unter dem Titel „Mad Dogs and Englishmen“ in vielerlei Hinsicht Geschichte schrieb. Cocker sang sich, mit einer Band um Leon Russell, mit ungestümer Kraft und seinem unglaublichen Gespür für zarte Balladen durch den Katalog eines Genres, das damals noch nicht klassisch war. „Bird on the Wire“ von Leonard Cohen, „Honky Tonk Women“ von den Rolling Stones, Otis Reddings „I’ve been Loving You Too Long“, Bob Dylans „Girl From the North Country“, „She Came in Through the Bathroom Window“ gehörten ebenso zum Repertoire wie „The Letter“, „Delta Lady“ und „Feelin’ Alright“. Unglaublich, auf welche Nummern sich der 25-Jährige einließ. Wie er die besten Songs der Größten veredelte und zu seinen eigenen machte, die er bis zum Schluss auf der Bühne darbot.
„Gen der Selbstzerstörung“
Joe Cocker, und das machte ihm auf Dauer Probleme, war kein Komponist, kein Singer-Songwriter, sondern ein Interpret. Früh hatte er seine Kennung gefunden, seinen Weg. Und der führte ihn schnurstracks an den Abgrund heran. Die „Mad Dogs“-Tour war vorüber, die Platte erschien (ein Juwel auch heute noch), und er war pleite. Ausgelaugt, ausgenutzt. Am Ende. Ein Wunder, dass er nicht, wie die früh verstorbenen Janis Joplin, Jim Morrison, Brian Jones oder Jimi Hendrix, in den „Club 27“ eintrat. Er hatte dafür alle schlechten Voraussetzungen, fühlte in sich ein „Gen der Selbstzerstörung“, wie er einmal sagte.
John Robert Cocker hatte schwere Alkoholprobleme, war heroinsüchtig. Er gab in den Siebzigerjahren Konzerte am Rande des Zusammenbruchs. Wie oft hat man ihn abgeschrieben, aufgegeben, wie oft kam er wieder! „You Are So Beautiful“ ist einer seiner Songs, die dem Zuhörer das Herz auf offener Bühne brechen. Er konnte den Urschrei in magisches Flüstern verwandeln, in sich hineinhorchen. Ein Vokalkünstler von Gnaden: Mit Jennifer Warne sang er „Up Where We Belong“ im Duett. Ein Nummer-Eins-Hit in den USA, 1983 gab es dafür den Grammy Award. Einem Song konnte nichts Besseres passieren, als von Joe Cocker zwischen die Zähne genommen zu werden; wie ein großer Hund, der zärtlich auf ein Baby aufpasst. „You Can Leave Your Hat On“: Auch dieses Lied wird ewig mit ihm verbunden sein, nicht zuletzt durch den Film „9 ½ Weeks“. Das Album „Sheffield Steel“ von 1982 war eines seiner besten.
Seine ungelenken Bewegungen wurden oft parodiert
Immer wieder hatte er Hits, 1987 mit „Unchain My Heart“. Er war allerdings nicht stilsicher. 1989 sang er bei der Inauguration für US-Präsident George Bush. Seine späteren Alben waren nicht frei von Kitsch, man spürte, dass er nach authentischem Songmaterial suchte, so wie es einst seine Karriere und den Erfolg der Beatles oder der Stones begründet hatte. 2010 erschien „Hard Knocks“, 2012 „Fire It Up“. Seine Konzerte hatten etwas Mechanisches bekommen. Aber der Urschrei kam fast immer mit Naturgewalt.
Er hat noch etwas anderes ausgeprägt, unfreiwillig. Die Bühnen-Show war seine Sache nicht unbedingt. Oft wurden seine ungelenken Bewegungen parodiert. Man spielte Luftgitarre auf Partys. Und man machte den Cocker: mit Augenrollen, verdrehten Armen. Aber das war auch nur eine seltsame Art, seine Zuneigung zu einem Sänger auszudrücken, gegen den so viele andere Flachpfeifen sind.
Mit Berlin verbinden ihn besondere Erinnerungen. Im Sommer 1988, am 1. Juni, trat er in der Radrennbahn Weißensee auf, tags darauf in Dresden, wo man nachher von der „Cocker-Wiese“ sprach. Es kam im legendären Rocksommer der DDR, dessen Höhepunkt am 19. Juli das Konzert von Bruce Springsteen war.
Joe Cocker lebte seit vielen Jahren mit seiner Frau auf einer Ranch in Colorado. Dort ist er am Montag an Lungenkrebs gestorben. Er wurde 70 Jahre alt. Die Zeitschrift „Rolling Stone“ zählt ihn zu den 100 größten Sängern aller Zeiten, 2007 wurde er in die „Rock’n’Roll Hall of Fame“ eingeführt.
Unter all den Biestern und Paradiesvögeln des Pop war er der Malocher, der Typ aus der Arbeiterklasse. Kein Intellektueller, kein Designer, wie viele andere englische Popstars seiner Generation. Kein Salonlöwe wie Bryan Ferry, kein Konzeptkünstler wie David Bowie. Joe Cocker war auf sich allein gestellt, mit der Gabe einer einzigartigen Stimme. Seine Karriere war Kampf. Man hat es ihm angesehen. Sein Gesicht trug die Narben von Niederlagen und Triumph. Er stand allein vor dem Mikrofon, rang mit seinem Körper, dem unfassbare Töne entstiegen. Es war, als hätte er einen Vulkan verschluckt. Und er musste die heiße Lava in Bahnen pressen. Seine Hände schienen nach Halt zu suchen in der Luft, die er bewegte, die ihm entströmte. Einer seiner schönsten Songs heißt „Cry Me a River“. Was sonst bleibt seinen Fans in dieser Stunde?
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