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Im Grauen verwandt. Mutter und Tante in „Tyrannis“.
© Nils Klinger/Festspiele

Theatertreffen Berlin: "Tyrannis": Eine schrecklich stumme Familie

Horrorszenarien als Mittel der Aufklärung: Ersan Mondtags Parabel „Tyrannis“ vom Staatstheater Kassel. Er ist der Jüngste des Debütantenkreises des diesjährigen Theatertreffens.

Am Anfang hatte Ersan Mondtag dieses Bild im Kopf. Ein Mann, der mit einem gefällten Tannenbaum ins Haus kommt, die Axt noch in der Hand, nachdem man die Schreie einer Vergewaltigten gehört hat. Diese Szene, die dann auch genau so Eingang in die Inszenierung „Tyrannis“ gefunden hat, verrät schon viel über die bildmächtige, seltsam entwurzelte, fast physisch bedrängende Fantasiewelt des 28-jährigen Theatermachers.

Mondtag nennt als einen Inspirationsquell dieser Arbeit Beethovens 3. Sinfonie. Eher unerwartet. Kaum überraschend ist dagegen sein Faible für Kafkas Albtraum-Szenarien sowie gut gemachte Horrorfilme. Im Kino sieht sich der Regisseur seit der Kindheit kaum anderes an, auch zu Hause schaut er bevorzugt Splatter-DVDs – weil die beschworene Angststimmung „so unmittelbar in den Körper fährt und auf den Wohnraum übergreift“. Genau das sucht er auch im Theater, als Zuschauer wie als Regisseur: „Dass eine Verschiebung der Wahrnehmung einsetzt.“ Mit welchen ästhetischen Mitteln, ist erst mal zweitrangig.

Kleinste Störungen im Alltagsablauf entwickeln eine fatale Dynamik

„Tyrannis“, am Staatstheater Kassel entstanden, entlässt einen definitiv mit anderem Blick. Mondtag hat einen bedrückenden Nachtmahr komponiert, der den Assoziationsreigen von David Lynch bis Francis Bacon öffnet, dessen Schrecken aber auf die Gegenwart verweist. Die Gruselinstallation führt über zwei Stunden die Rituale einer schrecklich stummen Familie von Rotschöpfen vor, die sich in eine von Wind, Schreien und Jazz umheulte Einöde zurückgezogen hat. Über Monitore im klaustrophobischen Bühnenraum sind Schlafzimmer oder Obergeschoss einsehbar, eine hermetische Selbstüberwachungshölle, die keinen Eindringling duldet.

„Familie“, findet Mondtag, der Jüngste aus dem Debütantenkreis des diesjährigen Theatertreffens, „kann im Kleinen wie im Großen zur Gefahr werden.“ Die Bedrohung erwächst dabei aus purer Projektion. Kleinste Störungen im Alltagsablauf – wie der Stau vorm Klo – entwickeln eine fatale Dynamik. Klar liegt es nahe, darin eine Parabel auf unsere Gesellschaft im Abschottungswahn zu sehen. Was als alleinige Lesart aber zu eindimensional wäre. Der Regisseur bringt es so auf den Punkt: „Ich schaffe eine künstliche Situation, die möglichst weit von der Realität entfernt ist. Und die dennoch in der Realität ankert.“

Mondtag, 1987 in Berlin geboren, heißt eigentlich Aygün – was wörtlich übersetzt dem selbst gewählten Künstlernamen entspricht. Man kann nicht behaupten, dass er eine geradlinige Karriere hingelegt hätte, auch wenn er seit Jahren Stammgast beim Festival „Radikal jung“ ist und an großen Häusern wie dem Schauspiel Frankfurt oder dem Thalia Theater in Hamburg inszeniert. Frühe Arbeiten fanden aus Raumnot und Experimentierlust auf der Straße statt. Oder, was hohe Wogen schlug, auf dem Oktoberfest, wo er mit Performerinnen in Burka am Schießstand aufkreuzte. In seiner Deutung war die Aktion, die schlussendlich die Polizei auf den Plan rief, „ein Angebot, als Betrachter die eigenen Reflexe zu überprüfen“.

Mondtag entsprach nicht den gängigen Mustern

Mondtag ist kein effektverliebter Provokateur. Schon aber ein kompromissloser Künstler, der mit seiner Arbeitsweise in Konflikt mit dem behäbigen Verwaltungsapparat der Stadttheaterbetriebe gerät. Und der sich auch nicht scheut, eigene Arbeiten (trotz Beifalls) als gescheitert zu bezeichnen. Es passt jedenfalls, dass er vor seinem Studium an der Falckenberg-Schule in München (das er bald abbrach) ein Jahr beim norwegischen Extremkünstler Vegard Vinge im Prater arbeitete. Zu nonkonformistisch selbst für die Volksbühne. „Komplettes Unverständnis“ erntete Mondtag auch in München. Man warf ihm vor, mit seinen Schauspielern „wie ein Sektenführer aufzutreten“, lacht Mondtag. „Bloß weil ich nicht den gängigen Mustern entsprach.“

Aus diesem Grund ist er heute – nicht erst seit der Einladung zum Theatertreffen – republikweit gefragt. Am Gorki, wo er in der kommenden Spielzeit „Antigone“ inszeniert. Oder an den Münchner Kammerspielen, wo er seine Beschäftigung mit dem noch immer ungenügend durchleuchteten NSU-Komplex fortsetzen wird. Über die anhaltenden Morddrohungen gegen die Aufklärungswilligen müsse man reden, findet Mondtag, „statt über Böhmermann“. Ein Fall für den Spezialisten der Wahrnehmungsverschiebung.

Haus der Berliner Festspiele, Seitenbühne, 8.5., 15.30 und 20 Uhr, 9.5., 15 und 19 Uhr.

Patrick Wildermann

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