Berliner Ufer (2): Eine schöne Stelle zum Sterben
Auf den Spuren des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf am Ufer des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals, der früher Hohenzollernkanal hieß.
Am Abend des 22. Oktober 2010 ist der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf wieder einmal am Kanal unterwegs, „auf der Suche nach einem guten Ort“, wie er in seinem Blog „Arbeit und Struktur“ notiert „da der bisher bevorzugte Platz auf den Steinstufen mir mittlerweile zu fern und auch in der Nacht nicht menschenleer genug erscheint.“ Er entdeckt am Nordhafen eine kleine Bank unter der Fennbrücke, auf der er probesitzt, die aus technischen Gründen jedoch nicht ideal erscheint. Eine Brache am Friedrich-Krause-Ufer verwirft er ebenfalls, weil auch hier Menschen in der Nähe sein könnten.
„Der gute Ort“, „die Stelle“ oder „eine schöne Stelle“, wie es in anderen Einträgen von „Arbeit und Struktur“ heißt, den oder die suchte Wolfgang Herrndorf entlang des Hohenzollernkanals, um sich hier wegen seiner fortschreitenden Tumorerkrankung umzubringen. Herrndorf wohnte in den letzten knapp anderthalb Jahren seines Lebens am Nordufer. Am liebsten ging er im nicht weit entfernt liegenden Plötzensee schwimmen, und in der Regel wanderte er „am Kanal“ nach Mitte oder stadtauswärts zum Plötzensee oder weiter Richtung Tegel oder Spandau.
Der Kanal heißt offiziell seit über einem Jahrzehnt nicht mehr Hohenzollernkanal, sondern Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal. Er verbindet die Spree mit der Havel und erstreckt sich knapp über zwölf Kilometer, er beginnt am Spreebogen in der Nähe des Hauptbahnhofs und mündet schließlich hinter der Jungfernheide in den Spandauer und Tegeler See und die Havel.
Statt eines Uferwegs gibt es Trampelpfade
Wer den Schriftsteller gekannt und seine Bücher gelesen hat, insbesondere „Arbeit und Struktur“, muss am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal natürlich unweigerlich an Herrndorf denken. Das Laufen oder Fahrradfahren hier bekommt etwas von einer Spurensuche, und erstaunlich ist allein, wie viel verborgene, „gute“ Orte man auf dem Teilstück des Kanals vom „Deichgraf“, wo Herrndorf oft einkehrte, über die Putlitzbrücke bis zur Seestraße und dem Autobahnzubringer zu erkennen meint. Wofür die Verborgenheit auch immer gut sein mag. Es gibt keinen wirklichen Uferweg, nur ein paar Stellen sind ausgebaut. Ansonsten dominieren Trampelpfade, die mit dem Fahrrad nicht zu befahren und oft erst durchs Gebüsch zu erreichen sind. Auf der anderen Seite sieht man dann den Lastkahn „Karl Heinz“, der gerade am Kanal festgemacht hat, oder das riesige Löschgebäude des Westhafens. Industriebauten und sonst nichts.
Ein Pärchen schaut von einer der versteckten Bänke herüber, und ein paar Meter weiter haben sich an diesem ersten Ferientag gerade ein paar Jugendliche mit Bierflaschen niedergelassen. Sie sind etwas älter als Maik Klingenberg und sein Freund Tschick, also „Tschick“-Zielgruppe, haben aber von Herrndorf noch nie was gehört. „Cool“ sagen sie, als ich ihnen von seinem Selbstmord irgendwo am Kanal erzähle, merken aber, dass dieser Ausdruck es vielleicht nicht so trifft.
Am 25. November 2012 macht Herrndorf abends einen Spaziergang zum Plötzensee, schaut auf einer Bank sitzend den Wolken und „der Natur bei ihrer unangestrengten Nachbildung Deutscher Romantik“ zu und läuft schließlich „auf dem kleinen Weg, den wir im Sommer zum Tegeler See fuhren, den Kanal runter bis zu der schmalen Brücke und den Spundwänden, wo eine schöne Stelle ist.“ Das ist wohl absichtsvoll unpräzise, kaum zu finden – hinter der Plötzenseeanlage, an den Grundstücken einer Bildhauerei („Natursteinarbeiten und Grabmale“) und einer Pflanzen- und Torfvertriebsgesellschaft vorbei steht man jedenfalls nach einer Kurve auf einmal vor der Kleingartenkolonie Plötzensee-Wedding.
Aber wie weiter? Rechts liegt der St.- Johannis- und Heiland-Kirchhof, daneben eben die Kleingärten, alles sehr, sehr ordentlich und gerade, mit einem Weg hier, einem dort. Linker Hand gibt es tatsächlich einen als Fahrradweg ausgeschriebenen „Hauptweg“, der wieder herunter zum Kanalufer führt. Man kann hier gerade an diesem hochsommerlichen Nachmittag schön schnurgerade am Wasser entlang in die Ferne blicken. Nach gut einem Kilometer kommt schließlich die „Stelle“, an der Wolfgang Herrndorf sich erschossen hat: zwischen zwei Birken, mit direktem Wasserzugang, markiert von einem aus zwei rostigen Verstrebungen bestehenden Kreuz. So wie Herrndorf es sich in seinem Blog gewünscht hat: „Und wenn es nicht vermessen ist, vielleicht ein ganz kleines aus zwei T-Schienen stümperhaft zusammengeschweißtes Metallkreuz mit Blick aufs Wasser, dort, wo ich starb.“ 1965 steht links auf dem Kreuz, darunter hängt eine kleine rote Weihnachtskugel, 2013 rechts, darunter wiederum ein kleines blaues Plastikosterei. Und in der Mitte stehen die Initialen des Autors.
Der "Deichgraf" war Wolfgang Herrndorfs Lieblingskneipe
Es scheint immer mal wieder jemand hier zu sein, um Herrndorf zu gedenken. Darauf deuten eine Friedhofskerze, ein roter Kreisel in einem Gefäß, ein leeres Bonne-Maman-Marmeladenglas. Warum dieser Ort nun geeigneter war als andere, erschließt sich jedoch nicht – so schwer, wie er zu erreichen ist, so weit, wie er von der Wohnung des Schriftstellers am Nordufer entfernt liegt. Aber muss sich das heutzutage noch erschließen?
Schön jedenfalls ist es, den Kanal herunter Richtung Spandau zu schauen, auf die sich im Wasser spiegelnden, sich ihm geradezu hinbiegenden Bäume; am Tag allerdings ist auch das direkt gegenüber dem Gedenkkreuz liegende Air-Berlin- Gebäude unübersehbar. Komisch wirkt es trotzdem: Die sonstige Umgebung mit ihren sich kilometerlang ziehenden Schrebergartenkolonien mag nicht recht zu Herrndorf passen, trotz seiner Szene-Schicki-Mitte-Aversionen.
Es zeigt sich ein Berlin, das vor allem kennt, wer hier wohnt, das die meisten nur auf dem Saatwinkler Damm in Taxis oder TXL-Bussen zum Flughafen passieren; ein Berlin, das ewig entfernt zu sein scheint von Mitte, Prenzlauer Berg und Kreuzberg, ein Vorort-Zille-Kleinwinkel- Berlin. Deutschlandflaggen, Hertha-Flaggen, hie und da mal eine französische Fahne sind in den Gärten aufgezogen, und an jedem Gatter warnen Schilder vor dem Hund. Darauf steht zum Beispiel: „ICH brauche 5 Sekunden zur Tür. Und DU?“ Allerdings kommt nach fünf Minuten immer noch kein Hund angelaufen.
Ein Rückzugsort für Graffitisprüher und Angler
Ein seltsames Idyll; ein Paradies für Radfahrer und Jogger, vielleicht auch für die Unerschrockenen, die sich im Kanal abkühlen, nicht so sehr für Spaziergänger. Die Schilder des Wasserstraßen- und Schifffahrtsamts Berlin, die auf die Vogelwelt, den Biber (eine Familie soll es geben), die Gehölze oder die Flachwasserzonen hinweisen, tragen alle den neuen Namen des Kanals. Nur die Kolonie „Am Hohenzollernkanal“ mit ihren Parzellen 1–45 hält wacker dagegen und weist darauf hin: „Achtung Fußgänger haben Vorrang“. Brachen gibt es auch. Noch vor der Brücke zum Flughafen Tegel ist so eine, mit wildem Gestrüpp, Mauerresten, kaputten Sofas, ein Probiergelände und Rückzugsort für Graffitisprüher und Angler. Letztere sind Stammgäste hier und machen Witze: „Ham’ wa gepachtet, 5500 Euro im Monat, hehe.“
Zurück im „Deichgraf“, in Herrndorfs Stammkneipe zuletzt, „dem gutbürgerlichen Lokal mit Biergarten“, wie der Laden sich nennt. An diesem späten Nachmittag sitzen in dem Biergarten nur Männer um die 60, 65 Jahre, mit Tattoos auf den Armen, die Zigarette in der einen Hand, das Bierglas in der anderen. Von Wolfgang Herrndorf haben sie noch nie gehört, auch die Bedienungen nicht.