„Tully“ mit Charlize Theron im Kino: Eine Hymne auf überforderte Mütter
Das bisschen Haushalt: Nach „Young Adult“ haben sich Regisseur Jason Reitman, Drehbuchautorin Diablo Cody und Charlize Theron für „Tully“ erneut zusammengetan.
Wer je kleine Kinder hatte, kennt das. Den Dauerzustand einer Wohnung im Chaos, den Moment, in dem die Kids einen erst grundaggressiv machen, bis man vor lauter Erschöpfung dann restlos gleichgültig wird. Wäscheberge, der Rest der Welt, das eigene Outfit, die Frisur, alles egal. Man kann einfach nicht mehr.
Der ständige Schlafentzug hat einen mürbe gemacht, die sozialen Kontakte strengen nur an, die Beziehung findet kaum noch statt, so was wie Sex schon gar nicht. Bestenfalls sitzt man wie ein Stück Gemüse auf dem Sofa und guckt blöde Realityshows, wenn das Baby ausnahmsweise mal schläft. Der Windeleimer stinkt, die Milchpumpe ziept an der Brust und bringt kaum Entlastung. Schon morgens die Brotboxen für die älteren Kinder, es nervt. Die Zeit vor der Familiengründung, Studium, wilde Nächte, wechselnde Lover, sie liegt Äonen zurück. Das eigene jüngere, energische Ich, es ist vergessen, begraben.
Eine postnatal depressive, überforderte Mittelstandsmutter abseits der politisch korrekten Bilder einer berufstätigen Mom und einer den Haushalt arbeitsteilig stemmenden, emanzipierten Partnerschaft - ist das Stoff für einen Hollywoodfilm, einen Hollywoodstar? Eher nicht, aber im Zuge der Gender- und Quotendebatten mehren sich die Ausnahmen. Regisseur Jason Reitman (ja, ein Mann!) hat es schon dreimal getan. Im Fünfjahresabstand und immer mit Drehbuchautorin Diablo Coby. Erst „Juno“ mit Ellen Page als schwangerer Teenagerin, dann „Young Adult“ mit Charlize Theron als Mittdreißigerin, die nicht erwachsen werden will, und jetzt „Tully“, wieder mit Theron.
Autorin Coby brilliert mit schwarzhumorigen Einzeilern
„Atomic Blonde“ als apathische dreifache Mutter: Für die Rolle der Marlo, einer Personalerin, die gerade ihr drittes Kind bekommt, hat e Theron sich 25 Kilo angefuttert. Erneut traut sich der Star, sich hässlich zu zeigen oder jedenfalls unansehnlich. Wie schon in „Monster“, für den sie 2004 den Oscar gewann, wirft sie weibliche Ideale rabiat über Bord. Zugunsten eines halbwegs ehrlichen Frauenbilds. „Mein Körper sieht aus wie die Reliefkarte eines kriegszerstörten Landes“: Autorin Coby brilliert einmal mehr mit schwarzhumorigen Einzeilern, die die Bizarrerien einer modernen Frauenexistenz so lapidar wie scharf auf den Punkt bringen.
Nicht alle Mütter kriegen das schließlich hin: die Doppelbelastung von Arbeit und Familie locker zu stemmen und den Mutterschutz für ein bisschen traditionelle Selbstverwirklichung zu nutzen, zum Beispiel für selbst gebackene Cupcakes im Minion-Look. Marlo jedenfalls kriegt gar nichts mehr hin. Deshalb muss eine Night Nanny her, wie es sie in den USA tatsächlich gibt: eine Babysitterin für die Nacht, damit die stillende Mutter nicht mehr ständig aufstehen muss. Tully (Mackenzie Davis) ist ein Ausbund an Freundlichkeit und Energie, ein kinderliebes Organisationsgenie und Aufräumwunder. Sie wickelt, kümmert sich - und bäckt die Cupcakes.
Über den Schluss des Films kann man sich streiten
Dank Tully, „spendiert“ von Marlos Bruder Craig (Mark Duplass) und seiner Bilderbuch-Family (in müden Mutteraugen sind die anderen immer Bilderbuch-Familien), träumt sie bald nicht mehr vom Ertrinken, sondern vom Überleben als Nixe. Trotz Tochter Sarah (Lia Frankland), die in der Vorpubertät steckt, trotz Sohn Jonah (Asher Miles Fallica), der neurologische Probleme hat und ausrastet, wenn Marlo den Wagen auf dem überfüllten Schulparkplatz mal anderswo abstellen muss. Trotz Baby Mia, das die Nächte durchschreit, trotz Ehemann Drew (Ron Livingston), der mehr arbeiten muss, damit das Geld irgendwie reicht. Abends hängt er vor Videospielen ab. Aber Marlo hat ja jetzt Tully, eine Art Mary Poppins des 21. Jahrhunderts. Die beiden verstehen sich blendend und lösen auch das Eheproblem mit der erkalteten Erotik.
Über den Schluss von Jason Reitmans Film kann man sich streiten. Zum einen führt er die Zuschauerin mit einer verblüffenden Wendung hinters Licht. Zum anderen verweigert er jede teleologische Happy-End-Dramaturgie. Du hast ein Problem? Sei tüchtig und löse es! Nein, mit manchen Problemen gilt es zu leben. Weiterzumachen, ohne Lösung in Sicht. Und sich dabei mit sich selbst anzufreunden, mit dem realen Selbst, nicht dem Ich-Ideal. Eine Hymne auf überforderte Mütter, die ihren Kindern den kostbaren, stabilisierenden Alltagstrott garantieren, ist „Tully“ allemal. Das nächste Mal darf es dann gern ein zu Tode erschöpfter Vater und Hausmann sein.
In 20 Berliner Kinos. OV: Cinestar Sony-Center, Karli Neukölln, OmU: Central Hackescher Markt, Delphi Lux, Filmkunst 66, Kino in der Kulturbrauerei, Moviemento, Rollberg
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